ist die Frage«, sagte Adrian leise. »Er muß zum Röntgen. Ich will auch, daß ein CT gemacht wird – diese Verletzung an seiner Schläfe gefällt mir nicht. Das sieht so aus, als sei er mit dem Kopf heftig aufgeschlagen. Aber die größten Sorgen bereitet mir sein Rücken.«
»Du meinst…«, Julia ließ ihre Frage unausgesprochen in der Luft hängen.
»Warten wir’s ab«, sagte Adrian knapp. »Es muß auf jeden Fall eine neurologische Untersuchung gemacht werden. Wenn er nur aufwachen würde!«
Julia beugte sich über den jungen Mann und strich ihm sanft über das Gesicht. »Hallo, können Sie mich hören?«
Die Lider des Mannes flatterten, und ihre Stimme wurde eindringlicher. »Bitte, wachen Sie auf. Wir müssen mit Ihnen reden!«
Wieder flatterten die Lider, gleich darauf öffnete der Patient die Augen.
»Guten Tag«, sagte Julia. »Können Sie mich sehen?«
Der Blick des Mannes nahm einen erstaunten Ausdruck an, dann krächzte er: »Ja.«
»Wunderbar«, sagte Julia. »Sehen Sie mal, wer hier ist!«
Nun beugte sich Adrian über den Mann. »Erinnern Sie sich an mich?« fragte er. »Ich habe vor einiger Zeit Ihre Fresken bewundert.«
Die Antwort ließ auf sich warten, aber dann kam sie klar und deutlich, wenn auch sehr leise. »Nicht meine, Herr Dr. Winter. Ich habe sie… nur restauriert.«
Adrian machte große Augen. »Sie wissen meinen Namen noch? Ich muß gestehen, daß mir Ihrer einfach nicht einfällt.«
»John Tanner.«
Adrian nickte lächelnd. »Natürlich, Herr Tanner, entschuldigen Sie bitte. Sie wissen, daß Sie schwer verletzt sind?«
Die Augen des jungen Mannes sahen ihn verständnislos an.
»… weiß nicht, was passiert ist.«
»Retrograde Amnesie«, murmelte Julia Martensen.
»Sie hatten einen Reitunfall«, erklärte Adrian, »und sind dabei schwer gestürzt, deshalb hat man Sie zu uns gebracht. Ich möchte jetzt gerne etwas versuchen, ja?«
Er strich dem Patienten vorsichtig über den linken Unterschenkel und fragte: »Haben Sie etwas gespürt?«
»Nein«, antwortete John Tanner.
»Und hier?« Er piekste sanft in den Oberschenkel.
»Ein bißchen«, lautete die Antwort.
Adrian lächelte. »Sehr gut. Nun machen wir das Ganze auch noch mit dem anderen Bein.«
Wieder spürte der Patient die Berührung am Unterschenkel nicht. Der Arzt prüfte die Reflexe und bat John Tanner, seine Zehen zu bewegen. Es gelang ihm nicht.
»Das war’s schon«, sagte Dr. Winter ruhig. »Wir fahren jetzt mit Ihnen zum Röntgen, Herr Tanner. Danach wissen wir dann genau, wie es in Ihnen aussieht.« Er bemühte sich um einen leichten Tonfall, hörte aber selbst, daß ihm das nur bedingt gelang.
»Was ist denn… mit mir?« fragte John Tanner.
»Das versuchen wir gerade herauszubekommen«, antwortete Adrian lächelnd. »Machen Sie sich keine Sorgen, wir kümmern uns jetzt um alles. Sollen wir jemanden benachrichtigen, daß Sie hier sind?«
»Nicht nötig«, murmelte John und schloß die Augen. Er war furchtbar müde.
Adrians Gesicht war jetzt sehr ernst. Julia und er wechselten einen langen Blick. Es war nicht nötig, etwas zu sagen. Sie wußten beide, was die Untersuchung gezeigt hatte.
*
Rosemarie Hagen sah ihre Nichte nachdenklich an. Mareike war seit mehreren Tagen bei ihr, aber noch immer weinte sie viel, aß kaum und wurde von Tag zu Tag blasser und unglücklicher. Darüber hinaus hatte sie sich bisher beharrlich geweigert, über ihren Kummer zu reden.
Doch Rosemaries Geduld war nun zu Ende. »So geht das nicht weiter, Mareike!« sagte sie energisch. »Wenn ich dir helfen soll, dann mußt du schon mit mir reden! Ich weiß ja überhaupt nicht, was los ist – außer, daß du dich scheiden lassen willst.«
Mareike war bei ihren ersten Worten erschrocken zusammengezuckt, aber nun nahm ihr Gesicht einen schuldbewußten Ausdruck an.
»Tut mir leid, Tante Rosi«, sagte sie leise. »Ich will es dir jeden Tag erzählen, und dann weiß ich plötzlich nicht mehr, was ich sagen soll. Ich weiß überhaupt nicht weiter!«
»Was ist passiert?« fragte Rosemarie ruhig. »Es muß doch etwas passiert sein, wenn du so plötzlich einfach wegläufst. Das sieht dir ja gar nicht ähnlich.«
»Es ist eigentlich nichts Neues passiert«, antwortete Mareike. »Wenn ich es mir genau überlege, war es sogar so wie immer. Robert hat bestimmt, was ich zu tun und zu lassen habe. Ich bin mir manchmal wie im Gefängnis vorgekommen. Er hat mich nur geheiratet, weil ich aus einem reichen Elternhaus stamme.«
Das glaubte Rosemarie Hagen auch, von Anfang an war das ihre Überzeugung gewesen. Allerdings galt ihre Meinung bei ihren Verwandten nichts. Sie war eine Stiefschwester von Mareikes Mutter und hatte mit dem ›vornehmen Teil der Familie‹, wie sie es nannte, keinerlei Kontakt mehr.
Sie wußte, daß ihre bescheidenen Lebensumstände ihren reichen Verwandten ein Dorn im Auge waren, aber es war ihr gleichgültig. Sie liebte ihre Unabhängigkeit, und überdies hielt sie nicht sehr viel von ihrer Familie. Sie selbst brauchte keine Reichtümer, um zufrieden zu leben.
Die einzige, an der sie hing, war Mareike. Allerdings hatte sie angenommen, daß auch ihre Nichte sich von ihr abwenden würde, nachdem sie diesen schrecklichen Robert Sandberg geheiratet hatte. Damals hatte sie vorsichtig versucht, Mareike zu warnen, aber das war völlig aussichtslos gewesen. Mareike war verliebt gewesen und hatte den Himmel voll roter Rosen gesehen. Aber den Kontakt zu ihrer ›armen‹ Tante hatte sie dennoch aufrechterhalten.
Und so hatte Rosemarie abgewartet, was aus dieser Ehe werden würde. Immerhin sah Mareike jetzt offensichtlich klarer als damals, und das war schon einmal ein großer Fortschritt.
»Und dann hat er mir plötzlich verboten, reiten zu gehen«, fuhr Mareike fort. »Es paßte ihm nicht, daß ich dahin gehe, hat er gesagt, weil ich darüber meine Pflichten vergesse.« Sie lachte bitter auf. »Meine Pflichten! Soll ich dir sagen, worin die bestehen?«
»Ich kann es mir vorstellen«, erwiderte Rosemarie ruhig.
Mareike schüttelte heftig den Kopf. »Das kannst du ganz bestimmt nicht! Ich bin erwachsen – oder etwa nicht? Und er behandelt mich, als könne ich nicht bis drei zählen. Er entscheidet für mich, er verbietet, er bestimmt – als sei ich ein Kind!«
»Aber er hat dich doch auch gerne vorgezeigt, oder?« erkundigte sich Rosemarie. »Ab und zu erscheinen ja mal Fotos in irgendwelchen Zeitschriften. Da erschien er immer ganz als stolzer Ehemann.«
»O ja«, sagte Mareike traurig. »Wenn er mich als Beutestück vorführen konnte, war er in seinem Element. In letzter Zeit habe ich mich allerdings öfter gefragt, was er macht, wenn ich alt werde und nicht mehr so schön bin, daß alle mich bewundern.«
»Und? Hast du auch eine Antwort auf diese Frage gefunden?« erkundigte sich ihre Tante gespannt.
Mareike fing an zu weinen. »Er betrügt mich doch schon lange, Tante Rosemarie. Ich habe es nur nicht wahrhaben wollen. Er liebt mich nicht, dazu ist er gar nicht fähig. Robert ist ein Mensch, der andere nur für seine Zwecke benutzt. Er braucht mich, weil eine schöne junge Frau in seiner Position dazugehört, das ist alles.«
Rosemarie setzte sich neben sie und nahm sie in den Arm. »Dann laß dich scheiden«, sagte sie ruhig. »Und danach fängst du ein neues Leben an.«
»Das sagt sich so leicht«, meinte Mareike. »Kannst du dir vorstellen, was die beiden Familien für einen Aufstand machen? Und alle werden sie auf seiner Seite sein. Er ist der Mächtige, der