von daher drohte seinem Herzen an diesem Tag also keine Gefahr mehr.
Ich muß verrückt geworden sein, dachte er, als er in seinem klapprigen alten Auto saß, um zum Club zu fahren. Wie konnte ich mich nur in eine Frau verlieben, die für mich absolut unerreichbar ist? Warum habe ich mir keine ausgesucht, die nur auf mich gewartet hat? Das würde die Dinge verdammt viel einfacher machen!
*
»Na, kleine Schwester?« Adrian Winter küßte Esther Berger zur Begrüßung liebevoll auf beide Wangen. Sie erwiderte seine Küsse, und dann legte er seinen Arm um sie, so daß sie fast unter seiner Achselhöhle verschwand. Sie standen vor dem Haus, in dem Esther wohnte. Das Kino, in das sie an diesem Abend gehen wollte, war von hier aus bequem zu Fuß zu erreichen, und so hatte Adrian seine Schwester abgeholt.
»Ich bin fünf Minuten älter als du, bitte vergiß das nicht!« gab sie ernsthaft zurück.
»Wie könnte ich?« Er lachte. »Du erinnerst mich doch dauernd daran.«
»Muß ich ja auch, denn sonst spielst du dich bloß wieder auf!«
»Käme mir nie in den Sinn!« behauptete er.
Sie lachte ihn einfach aus. Wenn man die beiden nebeneinander sah, dann hätte man sie nicht unbedingt für Zwillinge gehalten, obwohl die Familienähnlichkeit unverkennbar war: Die gleichen schmalen Gesichter und schlanken Gestalten, der gleiche wache Blick. Und die gleiche Art, beim Lachen das Gesicht zu verziehen oder gelegentlich unwillig die Stirn zu runzeln. Ihre Freunde behaupteten, sie seien einander unglaublich ähnlich, aber sie selbst sahen das nicht so.
Denn Esther war klein und zierlich, während ihr Bruder sie um fast zwei Köpfe überragte. Und Adrians Augen waren braun, Esthers blau. Außerdem waren sie im Wesen sehr verschieden, fanden sie. Die quirlige, zierliche Esther war eine äußerst temperamentvolle Frau, während ihr Bruder eher ruhig und nachdenklich war. Er überlegte, bevor er handelte, während sie gelegentlich zu spontanen Aktionen neigte, die sie hinterher oft genug heftig bereute. Daß auch sie manchmal nachdenklich war, während mit Adrian das Temperament durchging, sahen sie eher als Ausnahmen an.
»Was gibt’s Neues?« fragte er. »Von der Charité oder aus der Welt der Reiter? Oder vielleicht in deinem Liebesleben?«
Sie knuffte ihn leicht in die Seite. »Nix Liebesleben«, antwortete sie. »Eine Traumhochzeit mit anschließend gescheiterter Ehe reicht mir, das kann ich dir sagen.«
»Ich rede ja nicht vom Heiraten«, meinte er. »Sondern von diesem Knistern, das sich manchmal zwischen einer Frau und einem Mann einstellt – du weißt schon.«
Sie blieb stehen und sah ihn mißtrauisch von der Seite an. »Faß dich an deine eigene Nase! Wie sieht’s denn bei dir aus?«
Unwillkürlich sah er die schönen veilchenfarbenen Augen von Stefanie Wagner vor sich – jener Frau, die er anläßlich eines tragischen Unglücksfalles kennengelernt hatte. Aber obwohl er es versucht hatte, war es ihm seither nicht gelungen, ihr näherzukommen. Irgend etwas kam immer dazwischen, und leider hatte sie auch noch einen Freund.
Er schob diese Gedanken von sich, als er das Glitzern in den Augen seiner Schwester sah. »Bei mir tut sich in der Hinsicht überhaupt nichts«, erklärte er hastig und zog sie weiter. »Das hätte ich dir doch längst erzählt, Kleine!«
»Lüg mich nicht an!« sagte sie. »Und vor allem. Sag nicht noch einmal ›Kleine‹ zu mir – oder du kannst was erleben!«
»Was denn?« Er neckte sie zu gerne.
»Das wirst du dann schon sehen.«
Plötzlich wurde er ernst und sagte: »Ach, jetzt fällt mir wieder ein, was ich dir schon längst erzählen wollte, Esther!« Und begeistert berichtete er ihr über die wunderbaren Fresken, die er kürzlich in einer unscheinbaren Kirche entdeckt hatte, und von dem höchst interessanten Gespräch, das er anschließend mit dem Restaurator geführt hatte. »Sehr interessanter Mann und außerordentlich sympathisch.«
»Klingt gut«, meinte Esther. »Vielleicht können wir ja einmal zusammen ’rausfahren, was denkst du?«
»Gern«, sagte er. »Ich habe mir sowieso vorgenommen, dieser Kirche gelegentlich wieder einen Besuch abzustatten.«
»Falls du daran denken solltest, mich mit deinem sympathischen Restaurator zu verkuppeln, dann rate ich dir, vergiß es, Brüderchen. Mir steht im Moment nicht der Sinn nach einem Mann. Ich habe viel zuviel zu tun.«
»Also erzähl: wie läuft’s in der Charité?«
»Anstrengend, aber das ist ja nichts Neues. Die Arbeit macht mir Spaß, es ist das Richtige für mich, Adrian. Ich will keinen anderen Beruf haben.«
»Genau das gleiche habe ich neulich auch gesagt«, stellte er fest. »Als ich mit diesem Restaurator gesprochen habe.«
Sie verdrehte die Augen, und er sagte schnell: »Nein, wirklich. Ich will dich nicht mit ihm verkuppeln, er wäre kein Mann für dich, glaube ich. Aber was er gesagt hat, hat mich sehr nachdenklich gemacht. Er hat gemeint, daß es ziemlich selten vorkommt, daß jemand seinen Traumberuf ausübt. Die meisten Menschen, glaubt er, hätten lieber einen anderen Beruf als den, den sie ergriffen haben.«
»Wenn das stimmt, ist es traurig«, sagte Esther. »Stell dir das doch mal vor. Du tust etwas, Tag für Tag und Jahr für Jahr – und in Wirklichkeit wünschst du dich ganz woanders hin. Und das ist dann dein Leben.«
Adrian nickte. Sie hatten das Kino erreicht, in dem der Film lief, den sie sich ansehen wollten. Esther blieb stehen und sah ihren Bruder an. »Komm, wir gehen lieber in eine Kneipe und reden«, sagte sie. »Ich hab’ gar keine Lust mehr auf Kino.«
Er lächelte auf sie herunter. Das war wieder einmal typisch Esther. Aber ihr Vorschlag kam ihm nicht ungelegen. Sie hatten so lange schon keinen Abend mehr miteinander verbracht, daß es sicher viel zu erzählen gab.
»Einverstanden«, sagte er und ließ sie wieder in seiner Armkuhle verschwinden. »Auf in die nächste Kneipe!«
Es wurde ein sehr langer, sehr weinseliger Abend, und am nächsten Tag mußten sich Dr. Berger und Dr. Winter an ihren Arbeitsplätzen ziemlich viele spöttische Kommentare von ihren Kolleginnen und Kollegen anhören. Sie zielten alle in die gleiche Richtung: daß sie nämlich vielleicht doch das Alter schon hinter sich gelassen hatten, in dem man ungestraft die Nacht zum Tage machen kann.
*
Robert Sandberg setzte nach seinem ›Schwächeanfall‹, wie er es spöttisch nannte, sein Leben wie gewohnt fort. Vielleicht trank er ein bißchen weniger, vielleicht versuchte er auch, sich etwas mehr Bewegung zu verschaffen, aber im Grunde blieb alles beim Alten.
Eines Abends sagte er zu Mareike: »Wir werden ein großes Essen geben, hier ist die Gästeliste.« Er reichte ihr zwei Blätter über den Tisch.
Sie nahm sie zögernd und überflog sie. »Da ist ja auch nicht ein einziger netter Mensch dabei«, sagte sie leise. »Lauter aufgeblasene Wichtigtuer, die nichts im Kopf haben, als dir zu schmeicheln, weil sie auf große Geschäfte mit dir hoffen.«
Er sah sie an, und sein ohnehin hartes Gesicht wurde noch härter. »Was kümmert es dich?« fragte er. »Du hast keine andere Aufgabe, als schön auszusehen und charmant zu plaudern. Ist das zuviel verlangt für das Leben, das du in diesem Hause führen kannst? Daß du dich einmal alle vierzehn Tage mit Leuten unterhalten mußt, die dir nicht liegen?«
Plötzlich konnte sie nicht mehr an sich halten. »Jawohl, das ist zuviel verlangt«, sagte sie mit erhobener Stimme.
»Beherrsch dich bitte!« wies er sie leise, aber scharf zurecht. »Oder möchtest du, daß das ganze Haus teilhat an unserer kleinen Unterhaltung?«
»Das ist mir völlig gleichgültig«, gab sie zurück, leiser zwar als zuvor, doch immer noch laut genug, um ihn zusammenzucken zu lassen.
»Mareike, bitte!« Eine Zornesader schwoll auf seiner Stirn und erinnerte sie gerade noch rechtzeitig daran, daß auch er die Beherrschung verlieren konnte.