Robert Sandberg lief in dem holzgetäfelten Sitzungszimmer der altehrwürdigen Rechtsanwaltskanzlei auf und ab, während er zugleich mit beherrschter Stimme seinem Anwalt vortrug, wie er mit seiner Noch-Ehefrau Mareike umzugehen habe.
»Keinen Cent bekommt sie von mir«, sagte er kalt. »Haben Sie das verstanden? Keinen Cent! Sie hat mich böswillig verlassen, und…«
»So einfach ist das nicht, Herr Sandberg«, versuchte der Anwalt einzuwenden, doch sein prominenter Mandant ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Dann machen Sie es gefälligst so einfach!« fauchte er. »Ich habe keine Lust, wie der letzte Idiot dazustehen, verstehen Sie das?«
»Ein wenig Großzügigkeit würde vermutlich souveräner wirken«, gab der Anwalt zu bedenken.
»Und es würde Ihnen nicht weh tun, Herr Sandberg.«
Zum erstenmal unterbrach der Industrielle seine Wanderung und blieb direkt vor dem Schreibtisch stehen, hinter dem der Anwalt saß. »Was soll das heißen? Daß ich Mareike, die ich immer gut behandelt habe – was sage ich da? Gut? Wie eine Prinzessin habe ich sie behandelt! – also, daß ich Mareike, die mich ohne ein Wort der Erklärung verlassen hat, dafür auch noch bezahlen soll?«
Der Anwalt versuchte es erneut. »Herr Sandberg, Ihre Frau sieht die Sache vermutlich völlig anders.«
»Es ist mir egal, wie sie die Sache sieht, denn das spielt überhaupt keine Rolle!« Robert Sandberg setzte seinen arrogantesten Blick auf, und der Anwalt unterdrückte einen Seufzer. Der Mann hatte noch einen langen Weg vor sich, wenn er weiterhin so selbstherrlich auftrat. Die Medien würden den Fall, wenn er erst einmal bekannt wurde, begeistert aufgreifen, und er war ziemlich sicher, daß sie nicht Robert Sandbergs Partei ergreifen würden.
»Ihre Frau wird sich ebenfalls einen Anwalt suchen, und der wird die Angelegenheit in einem anderen Licht erscheinen lassen. Sie können sich darauf verlassen, daß sie Gründe für ihren Schritt anführen wird…«
»Was für Gründe denn?« schrie Robert Sandberg aufgebracht und nahm seine Wanderung durch den Raum wieder auf. »Es gibt keine Gründe.«
»Untreue zum Beispiel«, sagte der Anwalt trocken. »Das wäre durchaus ein Grund.«
»Untreue?« Das Gesicht seines Mandanten wurde rot vor Zorn. »Ja, wer sagt denn so etwas?«
»Hören Sie auf, Herr Sandberg.« Die Geduld des Anwalts war erschöpft, man hörte es seiner Stimme deutlich an. »Jeder in dieser Stadt weiß, daß Sie ständig Freundinnen haben. Mir müssen Sie nichts vormachen, denn mir ist das vollständig gleichgültig, das versichere ich Ihnen. Aber vielleicht war es Ihrer Frau nicht gleichgültig. Hat sie nichts davon gesagt?«
»Ich habe nicht so genau zugehört«, antwortete Robert Sandberg mürrisch. »Sie hat eine ganze Menge gesagt. Eine Menge dummes Zeug, meine ich. Also, was soll ich jetzt tun?«
Na endlich, dachte der Anwalt erleichtert. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, den Industriellen so weit zu bringen, daß er zumindest bereit war zuzuhören. Mit ruhigen Worten begann er, sein Konzept darzulegen. Ob Robert Sandberg sich auf seine Vorschläge einlassen würde, stand auf einem anderen Blatt. Aber zumindest mußte er sich dann später nicht vorwerfen lassen, nicht alles versucht zu haben, um den Mann zur Vernunft zu bringen.
*
Ja, dachte John, er würde einfach bei Mareike Sandberg zu Hause anrufen. Etwas Unverfänglicheres gab es schließlich nicht, er brauchte ja noch nicht einmal einen Vorwand. Die Erklärung lag doch auf der Hand, wie Esther Berger bereits sehr richtig festgestellt hatte. Sie trafen sich immer im Reitclub, und jetzt war Mareike dort schon länger nicht mehr aufgetaucht. Völlig normal, daß er auf die Idee kam, sich zu erkundigen, ob etwas passiert war.
Er trieb sein Pferd an, und in gestrecktem Galopp flogen sie über den Reitweg, der direkt am Waldrand entlangführte. John genoß die Geschwindigkeit, und auf einmal fühlte er sich wieder leicht und froh. Warum hatte er es sich nur so schwer gemacht in den letzten Tagen? Da mußte erst eine Frau wie Esther Berger kommen und ihm sagen, was er tun sollte?
Ein ohrenbetäubendes Geräusch war plötzlich über ihm. Er begriff, daß es ein Hubschrauber sein mußte, der eine Runde über dem Wald drehte. »Mist!« fluchte er leise, und im nächsten Augenblick brach das Pferd aus. Er versuchte, das Tier zu zügeln, um es zu beruhigen, aber der Hubschrauber drehte leider nicht ab, sondern kam noch näher.
John verlor die Kontrolle über das Pferd, das nun, verrückt vor Angst, quer über ein Feld raste, während der Hubschrauber über sie hinwegdonnerte. Wie in einem Film sah John sich selbst und seine verzweifelten Bemühungen, im Sattel zu bleiben, während er gleichzeitig versuchte, den rasenden Lauf des Pferdes zu stoppen. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis er aufgeben mußte. Wenige Sekunden später flog er in hohem Bogen auf die harte Erde, während das Pferd weiterrannte, als habe es nicht einmal gemerkt, daß es seinen Reiter verloren hatte.
Der Aufprall war furchtbar. Johns Körper schlug auf, und im selben Augenblick wußte er, daß nun alles aus war. Dabei fühlte er zu seiner großen Verwunderung keinen Schmerz. Dennoch wußte er, daß alles zerbrochen war. Er würde nicht aufstehen können, und niemand würde ihn hier finden.
Mareike, dachte er und sah ihr Gesicht mit den schönen braunen Augen und den vollen Lippen vor sich, die er niemals würde küssen dürfen.
Sie würde es nicht einmal erfahren, daß er verunglückt war, denn nun konnte er sie ja auch nicht anrufen.
»Mareike«, murmelte er, dann verlor er das Bewußtsein, während einen Kilometer weiter das Pferd seinen rasenden Lauf endlich stoppte und nun mit zitternden Flanken und Schaum vor dem Mund unter einem Baum stehenblieb.
*
»Ein Hubschrauberpilot hat einen schweren Reitunfall in der Nähe eines Waldstücks beobachtet«, berichtete Schwester Monika Ullmann knapp. »Sie bringen den Mann hierher, weil das nächstgelegene Krankenhaus nicht gut genug ausgerüstet ist.«
»Ein Hubschrauberpilot?« fragte Dr. Winter erstaunt.
»Ja, die haben offenbar nach einem entlaufenen Sträfling gesucht und dabei den Wald überflogen…«
»… und das Pferd so erschreckt, daß es durchgegangen ist, was?« fragte Adrian.
»Kann sein, das haben sie nicht gesagt. Sie fliegen den Mann jedenfalls selbst her.«
»Ist ein Sanitäter dabei?« fragte Adrian.
»Ja, der Sträfling ist bei seiner Flucht angeschossen worden, deshalb haben sie alles an Bord gehabt. Den Ausbrecher haben sie übrigens nicht erwischt.«
»Haben sie was über die Verletzungen des Mannes gesagt?« erkundigte sich der junge Notaufnahmechef.
»Mehrere Brüche. Aber vor allem hat sein Rücken was abgekriegt.«
»Das habe ich schon befürchtet«, antwortete Adrian besorgt. »Dann mal an die Arbeit, damit wir vorbereitet sind. Wann wollen sie hier sein?«
»In ein paar Minuten.«
Eilig gingen sie daran, eine der Notfallkabinen vorzubereiten. Sie hatten jedoch kaum angefangen, als der Verletzte auch schon gebracht wurde. Im Eilschritt liefen die Männer den Flur der Notaufnahme entlang und betteten den Patienten dann auf die Liege in der vorbereiteten Kabine.
Dr. Adrian Winter beugte sich über den wachsbleichen Mann und rief im selben Augenblick entsetzt: »Das gibt’s doch gar nicht!«
»Kennst du ihn?« erkundigte sich Dr. Julia Martensen, die gerade hereinkam.
»Ja«, antwortete Adrian, während sie beide mit der Untersuchung begannen. »Sein Name fällt mir im Augenblick nicht ein, aber er ist Restaurator. Ich habe ihn in einer Kirche kennengelernt, deren Fresken er restauriert hat. Eine ganz wunderbare Arbeit. Und ein höchst sympathischer, kluger Mann.«
»Er hat den rechten Arm und mehrere Rippen gebrochen«, stellte Julia fest.
»Innere Verletzungen hat er nicht,