noch dazu. Du schaffst das, und ich werde dir dabei helfen, das verspreche ich dir.«
Mareike weinte noch ein bißchen und überlegte, ob sie ihrer Tante nun auch noch von John Tanner erzählen sollte, der ihr so gut gefiel, daß ihr das Herz weh tat, wann immer sie an ihn dachte. Aber sie tat es dann doch nicht. John Tanner würde ihr Geheimnis bleiben, wahrscheinlich sogar für immer. Denn was wußte sie schon von ihm? Vielleicht war er ebenfalls verheiratet – und sogar glücklich.
Aber irgendwie spürte sie, daß das nicht so war. Dennoch sprach sie nicht über ihn. Das mußte noch warten.
*
»Es ist also eine Querschnittslähmung«, stellte Dr. Adrian Winter fest, als alle Untersuchungen abgeschlossen waren. »Aber ob sie vollständig ist, kann man zum augenblicklichen Zeitpunkt noch nicht erkennen.«
»Aussichtslos ist es nicht, oder?« fragte Julia Martensen.
Er zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Du weißt ja, wie das ist. Das Gewebe ist so geschwollen und blutunterlaufen, daß es zum jetzigen Zeitpunkt fast unmöglich ist, eine genaue Aussage zu machen. Das einzige, was mich hoffen läßt, ist, daß Herr Tanner immerhin noch Gefühl im Oberschenkel hatte.
»Das ist nicht sehr viel.«
»Nein«, bestätigte Adrian. »Das ist es nicht. Aber ich darf gar nicht daran denken, daß der Mann vielleicht nie wieder laufen kann. Diese Arbeit an den Fresken, in dieser Kirche, die ich mir da angesehen habe, die hätte er niemals durchführen können, wenn er nicht hätte stehen und laufen können!«
»Wir können jetzt nur abwarten, Adrian«, sagte Julia sanft. »In ein paar Tagen sind wir klüger.«
»Oder auch nicht«, erwiderte Adrian müde. »Manchmal zieht sich so etwas lange hin, bis man genau Bescheid weiß. Und das ist für alle Beteiligten die reinste Tortur.«
Julia ging nicht darauf ein, sie wollte Adrian in seinen trüben Gedanken nicht noch bestärken. »Wo ist Herr Tanner jetzt?« fragte sie.
»Im OP«, antwortete Adrian. »Wegen des gebrochenen Arms. Und wegen der Rippen. Aber sie haben ihn bereits völlig stillgelegt.«
Sie nickte. »Wir können ja später noch einmal nach ihm sehen, Adrian.«
Er gab keine Antwort, sondern starrte nur stumm vor sich hin.
Sie unterdrückte einen Seufzer. Was für ein Unglück aber auch, daß er John Tanner persönlich kannte! Persönliche Bindungen konnten einem Arzt die Arbeit ungeheuer schwer machen.
*
»Frau Dr. Berger!« rief Frau Langhammer ganz aufgeregt, als Esther an diesem Abend zum Reiten kam. Frau Langhammer war die Bauersfrau, auf deren Hof Luna stand. »Haben Sie schon von dem schrecklichen Unglück gehört?«
»Unglück?« fragte Esther. »Nein, ich habe überhaupt nichts gehört. Was ist denn passiert?«
»Na, dem Herrn Tanner, den Sie doch auch kennen, ist im vollen Galopp das Pferd durchgegangen.«
»Was sagen Sie da?« fragte Esther erschrocken. »Sind Sie ganz sicher? Ich habe ihn doch letztes Mal, als ich hier war, noch getroffen. Wir haben sogar miteinander gesprochen…«
Aber Frau Langhammer ließ sie nicht ausreden. »Ein Hubschrauber ist ziemlich tief über den Wald geflogen. Die haben einen gesucht, der aus dem Gefängnis ausgebrochen ist. Und da ist das Pferd durchgegangen, er hat es nicht unter Kontrolle bekommen können.«
»Und was ist ihm passiert?« fragte Esther.
»Niemand weiß was Genaues«, antwortete die Frau. »Aber ich habe gehört, er soll gelähmt sein.«
»Gelähmt?« fragte Esther entsetzt. »Wer hat das gesagt?«
»Ach, Sie wissen doch, es wird immer viel geredet in solchen Fällen. Jemand anders hat gesagt, daß er einen Schädelbruch hat. Aber genau weiß es keiner.«
»Wo ist Herr Tanner denn jetzt?« Esther wurde ganz kribbelig. Sie kannte John Tanner nicht besonders gut, aber doch gut genug, um wissen zu wollen, ob er bei dem Unfall ernsthaft verletzt worden war oder nicht. Mit Klatschgeschichten wollte sie sich nicht zufriedengeben.
»Sie haben ihn nach Berlin ’reingebracht, das kleine Krankenhaus hier in der Nähe war nicht gut genug ausgerüstet«, berichtete die Bauersfrau.
»Und in welches Krankenhaus?«
Aber das wußte Frau Langhammer nicht, und Esther beschloß, sich im Reitclub zu erkundigen. Dort würde man hoffentlich Bescheid wissen. Hatte John Tanner überhaupt Angehörige hier in der Nähe? Erst jetzt fiel ihr auf, wie wenig sie von ihm wußte. Und was war mit Mareike Sandberg – hatte sie erfahren, was passiert war?
»Ich fahre zurück«, erklärte sie hastig. »Heute ist mir die Lust aufs Reiten vergangen.«
»Da wird Luna aber traurig sein«, sagte Frau Langhammer. »Aber ich kann Sie verstehen, Frau Doktor. Ich war auch ganz krank, als ich es erfahren habe.«
»Auf Wiedersehen!« rief Esther und ging zurück zu ihrem Wagen. Sie würde direkt in den Reitclub fahren und sich nach Herrn Tanner erkundigen.
*
»Du kannst wirklich gern bei mir bleiben für eine gewisse Zeit, Mareike«, sagte Rosemarie Hagen. »Das Häuschen ist nicht groß, aber für zwei reicht es, wie du siehst.«
Mareike schüttelte den Kopf. »Das ist lieb von dir, Tante Rosi, aber ich muß zurück. Ich muß eine kleine Wohnung finden und irgendeinen Job – und dann gehe ich wieder an die Uni. Ich träume schon lange davon, mein Kunststudium zu beenden, auch wenn ich damit vielleicht nichts anfangen kann.«
»Einen Job?« fragte Rosemarie erstaunt. »Na, hör mal, das hast du doch gar nicht nötig!«
»O doch«, entgegnete Mareike. »Ich lasse mich von Robert nicht kaufen. Das sollen die Anwälte unter sich ausmachen – ich meine, was mir zusteht und was nicht. Aber ich will auch ohne das Geld, das er vielleicht bezahlen muß, leben können. Und meine Eltern werde ich nicht um ihre Hilfe bitten, das kann ich dir versichern.«
»Urteile nicht zu hart über sie«, bat ihre Tante. »Vielleicht haben sie wirklich geglaubt, daß du glücklich wirst mit Robert Sandberg.«
»Das glaubst du doch selbst nicht!« erwiderte Mareike, und Rosemarie Hagen mußte ihr im stillen recht geben. Nein, sie glaubte es selbst nicht. Es war eine Geldheirat gewesen, für beide Seiten. So und nicht anders mußte man das sehen. Daß Mareike sich tatsächlich in ihren späteren Mann verliebt hatte – oder zumindest geglaubt hatte, verliebt zu sein –, war für die Familien äußerst praktisch gewesen.
An Mareikes Wohl hatte dabei sicherlich niemand gedacht. Warum auch? In früheren Zeiten waren Ehen auch von den Eltern für ihre Kinder arrangiert worden, und nicht wenige davon waren recht glücklich geworden. Es hätte in diesem Fall ja auch so sein können.
Nein, dachte Rosemarie, das hätte es nicht. Wenn man Robert Sandberg einmal erlebt hatte, dann wußte man, daß niemand mit ihm glücklich werden konnte. Er befand sich ja nicht einmal im Einklang und im Frieden mit sich selbst.
*
John Tanner lag bewegungslos in seinem Klinikbett und versuchte, an nichts zu denken. Doch das war natürlich völlig unmöglich. Tatsächlich ging ihm so vieles auf einmal durch den Kopf, daß ihm manchmal regelrecht schwindelig davon wurde. Der beherrschende Gedanke aber war: Ich werde wahrscheinlich nie wieder gehen können.
Sosehr sich die Ärzte auch bemühten, Optimismus zu verbreiten, er glaubte ihnen kein Wort. Am meisten vertraute er Dr. Winter, der jeden Tag kam, um ihn zu besuchen, wann immer es seine Arbeit in der Notaufnahme erlaubte. Dr. Winter war seinen Fragen nicht ausgewichen und hatte sie nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet. Aber auch er hatte um Geduld gebeten und darauf hingewiesen, daß es durchaus im Bereich des Möglichen war, daß die Lähmung sich noch zurückbildete.
John konnte es nicht glauben. Er hatte keine Zukunft