ja ständig neue Verletzte hier an. Aber in den anderen Krankenhäusern sieht es natürlich nicht besser aus als bei uns. Wie steht es oben?«
»Wir sind fertig«, antwortete Bernd Schäfer. »Im übertragenen und im wörtlichen Sinne.«
Über Thomas Laufenbergs Gesicht huschte ein schnelles Lächeln. »Ich bin auch fertig«, gestand er. »Jeder, der heute nacht hier war, ist fertig, da können Sie sicher sein. Aber ich bin froh, daß Sie es geschafft haben, alle Patienten zu retten. Das ist das Wichtigste. Und dann müssen wir die Notaufnahme räumen, sonst kann hier ja niemand arbeiten.«
»Ich weiß nicht, wohin mit den Leuten«, meinte Adrian. »Auf den Stationen liegen auf jedem Flur Patienten, die Zimmer sind alle überbelegt.«
»Ja, ich weiß.« Noch immer klang Thomas Laufenbergs Stimme völlig sachlich. »Aber das ändert sich bald. Ich habe zwei meiner Mitarbeiter losgeschickt, damit sie ermitteln, wo Patienten in den nächsten Stunden schon wieder entlassen werden können. Da wird dann ein Platz frei – und wenn es ein Platz auf dem Flur ist. Die Notaufnahme muß jedenfalls wieder funktionsfähig sein.«
»Danke«, sagte Adrian, der wider Willen beeindruckt war von der Energie des neuen Verwaltungsdirektors und dem Durchblick, den er in dieser kritischen Situation bewiesen hatte.
»Nichts zu danken«, kam die sachliche Antwort. »Das ist mein Job.« Er nickte den beiden Ärzten zu und eilte zu seinen Mitarbeitern.
Adrian und Bernd verließen das Krankenhaus. »Du mußt deine Meinung über ihn wohl ändern«, meinte Bernd.
»So schnell nicht!« knurrte Adrian. »Da könnte ja jeder kommen. Gute Nacht, Bernd!«
»Bis morgen, Adrian. Und du bist sicher, daß sie keinen Mann hat?«
Es dauerte einen Augenblick, bis Adrian begriffen hatte, von wem er sprach. Dann lachte er. »Du bist unverbesserlich, Bernd. Sicher bin ich nicht, aber es ist die logische Folgerung aus dem, was sie gesagt hat.«
Bernd strahlte, und Adrian trat seinen Heimweg an. Was für eine Nacht, dachte er. Aber auf einmal war er nicht mehr müde, sondern fühlte sich nur noch angenehm matt. Er hatte vielen Menschen helfen können in den letzten Stunden, und deshalb war er schließlich Arzt geworden.
*
»Schläft er?« flüsterte Gabriele, als sie ihr Wohnzimmer betrat, in dem Rainer Wollhausen noch immer in einem Sessel saß und Zeitung las.
»Schon lange, was denkst du denn? Ich schlafe auch schon fast, gerade hatte ich die Hoffnung aufgegeben, daß du überhaupt noch einmal wiederkommst!«
Er wollte Gabriele an sich ziehen, doch sie wand sich aus seinen Armen und ging in Florians Zimmer. Auf Zehenspitzen schlich sie an sein Bett, zog die Decke zurecht, strich ihm über die Haare und schlich wieder hinaus.
»Na?« fragte Rainer spöttisch. »Bist du jetzt überzeugt?«
»Sei nicht albern«, wies sie ihn zurecht. »Ich wollte nur noch einmal nach ihm sehen, das ist doch normal, oder etwa nicht?«
»Normal ist, daß wir jetzt endlich ins Bett gehen«, sagte er, und diesmal schaffte sie es nicht, sich ihm zu entziehen. »Komm schon«, sagte er. »Ich habe die halbe Nacht auf dich gewartet.«
»Und ich habe die halbe Nacht operiert«, gab sie zurück. Wieso fragte er eigentlich mit keinem Wort, wie es gewesen war? Was sie erlebt hatte? Wieso nahm er keinen Anteil an dem, was sie jetzt gerade beschäftigte?
»Ist alles gutgegangen, oder habt ihr euch gestritten?« fragte sie.
Er überlegte einen winzigen Augenblick, ob er ihr sagen sollte, was er entdeckt hatte, doch er entschied sich dagegen. Dann würden sie nur noch darüber reden, und die Nacht war vorbei. »Alles bestens«, behauptete er. »Ich meine, er war ziemlich abweisend, aber das ist ja nicht ungewöhnlich. Kinder reagieren oft so. Er hat wahrscheinlich Angst, du würdest ihn weniger lieben, wenn ich auch noch da bin.«
Gabriele ging nicht darauf ein. »Ich bin müde«, sagte sie und löste sich von ihn. »Du kannst dir nicht vorstellen, welche entsetzlichen Verletzungen die Leute hatten, Rainer. Und es kamen immer mehr und immer neue, manchmal haben wir gedacht, es hört überhaupt nicht mehr auf.«
Er hatte eigentlich keine Lust, sich jetzt Horrorgeschichten aus dem Krankenhaus anzuhören, aber es würde ihm wohl nichts anderes übrigbleiben, das ahnte er schon. Besser, er heuchelte ein bißchen Interesse, vielleicht hörte sie dann bald von selbst damit auf.
Er nahm sie erneut in die Arme. »Versuch, nicht mehr daran zu denken«, flüsterte er.
»Und wie soll ich das machen?« fragte sie. »Ich habe die Bilder vor Augen, die Schreie noch im Ohr…«
»Und wenn wir ein Glas Wein trinken und noch ein bißchen Musik hören?« fragte er. »Vielleicht hilft dir das beim Abschalten.«
Sie überraschte ihn mit einem kleinen Lachen. »Das hat Dr. Winter auch gesagt. Wein und Musik. Also gut, Rainer. Trinken wir noch ein Glas.«
»Wer ist Dr. Winter?« fragte er mißtrauisch.
»Ein Kollege, er ist der Chef der Notaufnahme. Wir haben uns zufällig getroffen, nachdem wir den letzten Patienten operiert hatten.«
Er holte den Wein aus dem Kühlschrank und schenkte ein. In dieser Nacht war ihm einiges endgültig klargeworden. Er wollte auf keinen Fall eine Frau haben, die jederzeit nachts angerufen werden konnte und dann arbeiten mußte. Das sollte alles ganz anders werden, wenn sie erst einmal verheiratet waren.
*
Frau Senftleben öffnete ihre Wohnungstür, als Adrian die oberste Treppenstufe erreicht hatte. »Die Brandkatastrophe?« fragte sie. Sie war trotz der späten oder besser der frühen Stunde putzmunter und vollständig angezogen.
»Ja«, antwortete er. »Die Brandkatastrophe.«
»Hab’ ich mir schon gedacht. Haben Sie bis jetzt operiert?«
»Ja. Vor ein paar Stunden hatte ich einen toten Punkt und konnte nicht mehr, aber jetzt fühle ich mich eigentlich ganz gut. Wir haben vielen Menschen helfen können. Und wieso sind Sie noch wach, Frau Senftleben? Es wird ja schon bald wieder hell.«
»Ich konnte nicht schlafen«, erklärte sie schlicht. »Außerdem brauchen alte Menschen nicht mehr so viel Schlaf, das wissen Sie doch.«
»Alt!« protestierte er. »Wenn Sie alt sind, also dann…«
»Hören Sie auf, mir alberne Komplimente zu machen, Adrian! Trinken Sie ein Glas Wein mit mir, dann können wir beide schlafen. Oder sind Sie hungrig?«
Er schüttelte den Kopf. »Aber ein Glas Wein akzeptiere ich dankbar«, meinte er. »Schlafen kann ich sowieso nicht sofort. Sie können sich nicht vorstellen, was bei uns los war.«
Sie ging in die Küche, und er folgte ihr. »Wir haben sogar die Notaufnahme zur Station umfunktionieren müssen, weil wir nicht mehr wußten, wo wir die Leute unterbringen sollten«, erzählte er weiter.
»Ich hab’s im Radio gehört«, erwiderte sie und schenkte sein Glas voll bis zum Rand. »Eine solche Katastrophe hat es in dieser Stadt schon lange nicht mehr gegeben, haben sie gesagt.«
Sie hoben ihre Gläser, stießen schweigend an und tranken.
Adrian lehnte sich zurück und merkte, wie er sich entspannte. »Das tut gut«, sagte er. »Ich hatte mir genau das vorgenommen. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, daß Sie noch wach sind, deshalb dachte ich, ich höre noch ein wenig Musik, um meinen Kopf ein wenig auf andere Gedanken zu bringen.«
Sie lächelte und verließ die Küche. Gleich darauf drangen aus dem Wohnzimmer die Klänge einer Mozart-Sinfonie in die Küche, und sie kehrte zurück. »Mozart ist in solchen Situationen das Beste«, sagte sie.
Danach sprachen sie nicht mehr. Schweigend tranken sie ihren Wein, dann verabschiedete sich Adrian. Er fiel sofort in einen tiefen und traumlosen Schlaf.
*