sah ihn verächtlich an. Noch nicht einmal eine eigene Meinung hatte der Kerl! Wollte sich hinter seinem Vorgänger verstecken! »Das Übliche«, antwortete er kühl. »Daß er meine Vorschläge prüfen und zu gegebener Zeit darauf zurückkommen werde. Daß im Augenblick leider kein Geld und keine Planstellen vorhanden seien… bla bla bla. Sie wissen doch selbst, was Verwaltungsleute in solchen Situationen von sich geben.«
Das war reichlich unverblümt, und einen Augenblick lang fürchtete er, zu weit gegangen zu sein. Doch zu seiner Überraschung zeigte sich ein breites Lächeln auf dem Gesicht seines Gegenübers, das diesen erstaunlich verjüngte. Gleich darauf wurde er jedoch wieder ernst.
»Ihr Vertrauen in die Verwaltung ist offensichtlich nicht besonders groß, Herr Dr. Winter«, sagte Thomas Laufenberg ruhig. »Dabei müßte Ihnen doch eigentlich klar sein, daß wir am gleichen Strang ziehen. Was habe ich davon, wenn die Notaufnahme chronisch unterbesetzt ist und das Personal deshalb unzufrieden, im schlimmsten Fall sogar krank wird? Gar nichts! Es ist ja nicht so, daß wir hirnlos sparen wollen. Wir haben nur gewisse Vorgaben, die wir einhalten müssen. Und da wir über diese Einhaltung wachen, glaubt das medizinische Personal gern, daß wir auf der Gegenseite stehen. Das ist ein Irrtum. Wenn die Klinik geschlossen wird, weil sie nicht kostendeckend arbeitet, dann trifft das nicht nur Sie, sondern auch mich. So einfach ist das.«
Adrian war so verblüfft, daß ihm im ersten Augenblick keine Erwiderung einfiel. Dann jedoch hatte er sich von seiner Überraschung erholt. »Wenn es so einfach ist«, konterte er angriffslustig, »dann frage ich mich, warum für uns nicht mehr getan wird. Und warum unsere Klagen immer wieder ungehört verhallen.«
»Nicht ungehört«, widersprach der Verwaltungsdirektor. »Vielleicht sind Ihre Wünsche bisher nicht erfüllt worden, aber das heißt noch lange nicht, daß nicht nach Wegen gesucht wird, um das noch zu tun.«
Jetzt hatte Adrian begriffen, daß der neue Direktor ein ganz besonders Schlauer war. Er tat so, als wolle er helfen, und brachte die Leute damit wahrscheinlich erst einmal dazu, sich ruhig zu verhalten und sich nicht länger zu beschweren. Kluge Taktik, aber was glaubte er denn, wie lange er damit durchkommen würde?
Er stand auf. »Na«, sagte er spöttisch, »dann warte ich mal, wie lange Sie brauchen, um einen Weg zu finden, uns in der Notaufnahme zu helfen. Ich bin wirklich sehr gespannt, wann ich wieder von Ihnen höre. Auf Wiedersehen, Herr Laufenberg!«
Er nickte dem anderen kurz zu und verließ den Raum.
Thomas Laufenberg aber lehnte sich in seinen Bürostuhl zurück und dachte angestrengt nach. Dr. Winter hatte er sich mit diesem Gespräch jedenfalls nicht zum Freund gemacht, das stand fest. Er seufzte. Warum nur gingen immer alle davon aus, daß er der Feind war?
Nun ja, im Laufe der Zeit würde es ihm schon gelingen, das Gegenteil zu beweisen, aber er ahnte bereits jetzt, daß ihn das harte Arbeit kosten würde.
*
Gabriele Plessenstein eilte durch die Eingangshalle der Klinik. Es war ein schöner Abend mit Rainer gewesen, und eigentlich hätte sie vor Glück strahlen sollen, aber das tat sie nicht. Und sie wußte auch genau, warum: Sie hatte Florian wegorganisieren müssen, um diesen Abend zu ermöglichen, und das war auf Dauer nicht das, was sie sich wünschte.
Ein Mann, der mit ihr zusammensein wollte, mußte auch mit Florian gut auskommen. Und das würde bei Rainer niemals der Fall sein, das stand schon jetzt hundertprozentig fest. Er hatte gestern abend sogar vorsichtig angefragt, ob der Junge nicht auf ein Internat geschickt werden könnte. Es wurde Zeit, daß sie sich, was Rainer betraf, Klarheit über das verschaffte, was sie wollte und was nicht.
Aber eigentlich wußte sie es bereits, sie schreckte nur noch vor den Konsequenzen zurück, denn Rainer konnte eben auch sehr liebevoll, zärtlich und nett sein… Und sie war nach ihrer Scheidung so lange allein gewesen, daß sie nicht schon wieder Wert auf einsame Abende und Nächte legte.
Sie war so in Gedanken, daß sie fast mit einem Kollegen zusammengestoßen wäre, der ihr entgegenkam. »Oh, Herr Eder«, sagte sie lächelnd. »Entschuldigung, ich hab’ nicht aufgepaßt.«
»Ich auch nicht.« Er erwiderte ihr Lächeln. »Guten Morgen, Frau Plessenstein.«
»Guten Morgen!« Sie schüttelte den Kopf. »Erst renne ich Sie fast um, dann bin ich auch noch unhöflich. Irgendwie bin ich durcheinander heute morgen.«
»Das kommt vor, kein Grund zur Beunruhigung«, versicherte er. »Und man sieht Ihnen überhaupt nicht an, daß Sie durcheinander sind!« Ihre Blicke trafen sich, und sie wurde verlegen. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, den sie nicht deuten konnte.
Aber dann war der Moment auch schon vorüber, und er sagte: »Ich muß weiter, meine Kinder rufen.«
»Ihre Kinder?« Sie stutzte, dann lachte sie. »Ach so, die Kinder auf Ihrer Station. Ja, ich muß auch los, ich muß einer alten Dame ein neues Hüftgelenk einsetzen.«
»Alles Gute«, wünschte er. »Für Sie und für die alte Dame.«
Sie nickte und lief weiter. Dr. Konrad Eder war ein ganz Netter, das hatte sie schon gemerkt. Sehr zurückhaltend, fast schüchtern, aber klug und einfühlsam. Er war anders als Rainer, das spürte sie. Sie kannte ihn zwar kaum und konnte es daher, streng genommen, überhaupt nicht beurteilen, aber seine Augen hatten eben einen so eigenartigen Ausdruck gehabt…
Ich bin ja verrückt! dachte sie ärgerlich. Dann betrat sie den Fahrstuhl, wo sie zum Glück eine Kollegin traf, die sie sofort in ein Gespräch verwickelte. Das lenkte sie ab, und als sie wenig später den OP betrat, hatte sie Rainer Wollhausen, Konrad Eder und sämtliche Grübeleien über ihre Zukunft vergessen.
*
»Hoffentlich kommt Adrian bald!« sagte Esther Berger, Adrian Winters Zwillingsschwester, und sah hungrig in einen von Frau Senftlebens Töpfen, aus dem ein köstlicher Duft aufstieg.
Carola Senftleben war Adrians Nachbarin, eine ältere Dame, die sich liebevoll um ihn kümmerte, wenn er wieder einmal hungrig und müde nach Hause kam und nichts als einen leeren Kühlschrank vorfand. Sie war klein und zierlich und konnte sehr energisch sein, was man ihr aber nicht sofort ansah. Sie hatte unschuldige blaue Augen, die ihr schon in mancher kritischen Situation geholfen hatten.
Jetzt lachte sie über Esthers Bemerkung und sagte: »Wenn Sie solchen Hunger haben, Esther, dann dürfen Sie schon mit der Vorspeise anfangen.«
»Wirklich?« rief Esther, die mit ihren kurzen blonden Haaren wie ein frecher Teenager aussah und nicht wie eine gestandene Ärztin. »Ach, Frau Senftleben, es war eine wunderbare Idee, meinen Bruder und mich zum Essen einzuladen. Sie wissen ja, wie sehr ich ihn um Sie beneide. Meine Nachbarinnen sind auch alle sehr nett, aber keine käme auf die Idee, sich so um mich zu kümmern, wie Sie es bei Adrian tun.«
»Ich kann mich nur wiederholen. Ziehen Sie um!« riet ihr Frau Senftleben. »Hier in der Gegend wird immer mal was frei. Aber Sie wollen ja aus Kreuzberg nicht weg!«
»Einmal Kreuzberg, immer Kreuzberg«, stellte Esther fest, während Frau Senftleben einen Teller mit zwei hübsch angerichteten Halbkugeln vor sie hinstellte.
»Hm, das sieht aber lecker aus. Und was ist es? Eis kann es ja nicht sein, das gäbe es höchstens als Nachtisch.«
»Probieren Sie«, befahl Adrians Nachbarin, aber in diesem Augenblick klingelte es, und Esther sprang auf.
»Na endlich!« rief sie. »Ich mache auf, Frau Senftleben.«
Gleich darauf fiel sie ihrem Bruder um den Hals – soweit das überhaupt möglich war, denn Adrian war bedeutend größer als sie. Sie reichte ihm gerade bis zur Schulter.
Er hob sie hoch und schwenkte sie herum. »Hallo, Kleine!« sagte er liebevoll und stellte sie wieder ab. Dann ging er in die Küche, Esther folgte ihm. »Guten Abend, Frau Senftleben. Hm, wie das wieder duftet!«
»Hinsetzen!« sagte Frau Senftleben energisch. »Wir sind sehr hungrig, Ihre Schwester und ich.«
»Sie wollte wohl schon heimlich mit dem Fisch anfangen, was?«