daß er auf einmal überhaupt nicht mehr müde aussah, und sagte: »Guten Tag, Herr Hollaender. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß Sie endlich wach sind.«
»Wer… sind Sie… denn?« fragte Andreas leise.
»Dr. Adrian Winter, ich leite die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik. Sie sind gestern mit einem durchgebrochenen Blinddarm hier eingeliefert worden. Können Sie sich nicht daran erinnern?«
Andreas dachte nach, das heißt, er versuchte es. Das war schwer, weil sein Kopf sich noch immer dumpf anfühlte und nicht arbeiten wollte. »Ich hatte Schmerzen«, sagte er schließlich. »Große Schmerzen.«
»Ja, das stimmt. Und das ist auch kein Wunder. Die müssen Sie auch vorher schon gehabt haben, aber leider sind Sie deshalb nicht zum Arzt gegangen. Sie haben großes Glück gehabt, wissen Sie das überhaupt?«
»Glück?« fragte Andreas verständnislos.
Adrian beschloß, dem jungen Mann ein anderes Mal zu sagen, wie nah er dem Tod gewesen war. Jetzt war eindeutig nicht der richtige Zeitpunkt.
»Ja, Glück«, wiederholte er, gab aber keine nähere Erklärung dazu ab.
Andreas Hollaender fielen bereits wieder die Augen zu, und Adrian sagte hastig: »Ihrer kleinen Tochter geht es gut, Herr Hollaender, das wollte ich Ihnen noch sagen.«
»Fränzchen«, murmelte der Patient und lächelte.
»Aber Sie müssen mir noch den Namen Ihrer Freundin mitteilen, damit wir sie benachrichtigen können. Sie weiß noch gar nicht, was passiert ist.«
»Katinka«, sagte Andreas Hollaender und schlief wieder ein.
Adrian überlegte, ob er ihn noch einmal wecken sollte, schließlich nützte ihm ein Vorname nicht viel, aber dann dachte er, daß es auf eine Stunde mehr oder weniger auch nicht ankam. Es war wichtig, daß Andreas Hollaender schlief, damit sich sein Körper erholen konnte. Er würde dem jungen Kollegen Bescheid geben, daß er den Patienten bei der nächsten Gelegenheit nach dem Namen seiner Freundin fragen sollte.
Er selbst würde jetzt endlich nach Hause gehen und schlafen. Einen anderen Wunsch hatte er im Augenblick nicht.
*
»Ist Herr Dr. Winter noch hier?« fragte Katja den jungen Arzt, der ihr auf dem Flur der Intensivstation entgegenkam.
»Ja«, antwortete dieser. »Er ist noch bei einem Patienten, den er gestern operiert hat.«
»Danke!« sagte sie und rannte weiter.
»Da kommt er ja!« rief der junge Arzt ihr nach. »Herr Winter, Sie haben Besuch!«
Adrian Winter war sichtlich erstaunt, sie zu sehen. »Katja, was machen Sie denn noch hier? Ihr Dienst ist doch längst zu Ende!«
»Ich muß mit Ihnen sprechen, Herr Dr. Winter. Bitte, es ist wichtig.«
Er sah ihr blasses Gesicht, ihre flehenden Augen und unterdrückte einen Seufzer. Er war hundemüde und wollte in sein Bett! Aber er brachte es nicht übers Herz, sie abzuweisen.
»Kommen Sie«, sagte er. »Aber dann brauche ich einen Kaffee, sonst falle ich nämlich einfach um.«
»Danke!« sagte sie. »Aber wenn ich jetzt nicht mit jemandem sprechen kann, dann werde ich verrückt.«
»Na ja, Katja«, meinte er. »So schnell wird man nicht verrückt.«
Sie hatten das kleine Café im Erdgeschoß der Klinik erreicht und nahmen Platz.
»Haben Sie eine Ahnung«, widersprach Katja. »Man kann schneller verrückt werden, als man denkt.«
Sie bestellten jeder einen Kaffee und ein Brötchen, dann sagte Adrian: »Also, was ist denn nun so schrecklich, daß Sie meinen, Sie müßten verrückt werden?«
»Mein Freund ist weg, seit gestern – und niemand weiß, wo er ist. Wir hatten uns gestritten, danach ist er gegangen und nicht wiedergekommen.«
Du lieber Himmel, dachte
Adrian, eine Liebestragödie. Und das, wo ich Nachtdienst hatte und danach noch auf der Intensivstation war – das halte ich nicht aus!
»Er kommt bestimmt wieder, wenn er sich beruhigt hat«, sagte er und verachtete sich selbst für diese Phrase.
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Sie verstehen nicht, Herr Dr. Winter. Er hat unser Baby mitgenommen. Sie sind beide weg.«
Er starrte sie an. »Ihr Baby? Was soll das heißen: Ihr Baby?«
»Wir haben ein Kind, eine kleine Tochter von einem halben Jahr«, antwortete Katja leise.
»Das wußte ich nicht«, sagte er betroffen. »Das haben Sie nie erwähnt. Und Sie sind ja auch noch so jung… Also, ich wäre nie auf die Idee gekommen, daß Sie schon Mutter sind. Warum haben Sie uns nicht gesagt, daß Sie ein Kind haben, Katja?«
»Ich dachte, Sie nehmen mich nicht, wenn Sie es wissen. Ich dachte, Sie nehmen dann lieber eine Schwester, die ungebunden ist, und bei der man nicht befürchten muß, daß sie ständig ausfällt, weil das Kind krank ist oder so.«
Er schwieg. Durchaus möglich, dachte er, daß die Verwaltung das so gesehen hätte. Aber das behielt er für sich.
Sie senkte den Kopf. »Ich war neunzehn, als Franziska auf die Welt kam. Meine Eltern haben mich ’rausgeworfen und gesagt, wenn ich ein Kind kriegen kann, kann ich auch sonst für mich sorgen, und das soll ich gefälligst tun. Andreas ist es nicht viel besser ergangen. Wir sind auf einem Dorf groß geworden, wissen Sie? Da sieht man das alles noch sehr eng.«
»Du liebe Zeit, Katja!« Adrian wußte gar nicht, was er sagen sollte. »Und dann sind Sie nach Berlin gegangen?«
»Ja. Zu Hause war es nicht mehr zum Aushalten. Wir haben ein winziges Appartement in Kreuzberg, Andreas paßt auf die Kleine auf, wenn ich arbeite, er hat keinen Job im Augenblick. Das heißt…«
»Das heißt?« wiederholte
Adrian, als sie nicht weitersprach.
»Das heißt, er arbeitet jetzt auf Stundenbasis als Schreiner in so ’nem Luxushotel. Das macht ihm total Spaß.«
»Luxushotel?« fragte Adrian. »Als Schreiner? Ich wußte gar nicht, daß die überhaupt Schreiner beschäftigen.«
»Oh, solche Edelschuppen wie das King’s Palace schon«, erwiderte Katja.
Adrian setzte sich kerzengerade hin. »Er arbeitet im King’s Palace?«
»Ja«, sagte Katja, die viel zu sehr mit ihrer eigenen Geschichte beschäftigt war, um seine Aufregung zu bemerken. »Aber da war er seit gestern auch nicht mehr.« Sie wurde rot. »Wissen Sie, unser Streit bezog sich auf seine Arbeit. Nein, das stimmt auch nicht ganz. Es ging um eine Frau, die im Hotel arbeitet und von der er immer schwärmt. Frau Wagner. Die findet er schön und elegant und nett und…«
Adrian war wie vor den Kopf geschlagen. War es möglich, daß Schwester Katja tatsächlich von Stefanie Wagner sprach, jener schönen blonden Frau mit den wunderbaren Veilchenaugen, die ihm nicht aus dem Kopf ging, seit er sie kennengelernt hatte? Er hatte sie zwar einige Male wiedergesehen, aber leider war es ihm nicht gelungen, ihr näherzukommen, obwohl er sich das so sehr wünschte.
»Stefanie Wagner?« fragte er und hörte selbst, daß seine Stimme anders als sonst klang.
Katja sah ihn erstaunt an. »Das weiß ich nicht. Ihren Vornamen kenne ich nicht. Andreas sagt immer nur ›Frau Wagner‹. Sie hat ziemlich viel zu sagen im King’s Palace, und sie hat dafür gesorgt, daß sie Andreas in der Schreinerei nehmen. Jedenfalls habe ich sie heute morgen angerufen, und da hat sie erzählt, daß Andreas gestern nicht gekommen ist, obwohl er fest zugesagt hatte. Und ich habe mittlerweile richtig Angst um ihn und um Franziska. Was soll ich denn nur tun?«
Andreas… Franziska… Irgendein Gedanke saß in Adrians Hinterkopf, aber er bekam ihn nicht richtig zu fassen. Dabei war es wichtig,