hören. Und dann würden sie nicht mehr streiten und dumme Dinge sagen.
Sie würde in Zukunft ihre Eifersucht bekämpfen und ihre schwarzen Gedanken, wenn wieder einmal alles drohte, ihr über den Kopf zu wachsen. Andreas hatte recht: Sie waren jung und hatten das ganze Leben noch vor sich. Da ließ man sich nicht von den ersten kleinen Schwierigkeiten gleich einschüchtern!
Aber als sie die Treppe zu ihrer Wohnung hochstieg, hörte sie keinen Laut. Und sie wußte schon, bevor sie die Tür aufgeschlossen hatte, daß niemand zu Hause sein würde.
*
»Seit wann hast du denn ein Kind? Die Kleine steht dir aber gut, Esther!« »Warum hast du uns dein Baby verschwiegen?« So oder so ähnlich lauteten die Kommentare, als Dr. Esther Berger mit Franziska in der Charité eintraf.
»Ihr müßt ja nicht alles wissen«, war ihre Antwort gewesen. »Was gehen euch meine Kinder an?«
Das hatte für Verblüffung und Getuschel gesorgt, aber es kümmerte Esther nicht. Sie amüsierte sich sogar darüber. Sie hatte bereits mehrfach versucht, Adrian zu Hause zu erreichen, aber er hatte sich nicht gemeldet. Dabei hatte er doch, wenn sie sich nicht irrte, im Augenblick Nachtdienst. Er mußte also zu Hause sein! Aber er meldete sich nicht.
Eine der Schwestern von der Säuglingsstation hatte sich erboten, Franziska für diesen Vormittag zu betreuen. Sie war voller Mitleid gewesen, als sie gehört hatte, was passiert war. Die Kleine war hungrig und müde gewesen und hatte vor sich hin geweint, aber nachdem sie getrunken hatte, war sie friedlich und völlig erschöpft eingeschlafen.
Esther rief in der Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik an, um etwas zu erfahren, aber sie hatte Pech: Erstens herrschte dort Chaos wegen eines großen Unfalls ganz in der Nähe, und zweitens kannte sie keinen der diensthabenden Ärzte. Sie bekam also auch dort keine Information. Adrian war jedenfalls nicht mehr da, er hatte tatsächlich Nachtdienst gehabt und mußte längst zu Hause sein.
»Mist!« schimpfte sie leise vor sich hin. »Wozu hat man einen Zwillingsbruder? Wenn man ihn braucht, ist er nicht da!«
»Auf wen schimpfst du denn so heftig?« fragte einer ihrer Kollegen amüsiert. Er stand im Türrahmen und beobachtete sie offenbar schon eine ganze Zeitlang.
»Auf meinen Bruder«, antwortete sie mißmutig. »Ich muß mit ihm reden und erreiche ihn nicht. Aber jetzt ist es sowieso zu spät, denn mein Dienst beginnt. Nun muß das arme Kind eben bis heute abend auf der Säuglingsstation bleiben.«
»Welches Kind?« fragte er verblüfft.
Sie stand auf. »Franziska«, antwortete sie freundlich und tätschelte ihm im Vorbeigehen die Wange. Er hatte eine Schwäche für sie, wie sie wußte. Aber sie hatte keine für ihn, nur begriff er das leider nicht. »Franziska ist ein halbes Jahr alt, und ich mußte sie heute leider mit hierher bringen. Du kannst dir sicher vorstellen, daß das einige organisatorische Probleme verursacht.«
Er starrte ihr mit offenem Mund nach. »Aber Esther, ich wußte ja gar nicht, daß du… ich meine, also, daß du…«
»Du weißt vieles nicht, Heinz!« rief sie, ohne sich noch einmal umzudrehen. Leise vor sich hin lachend lief sie weiter. So ein Baby konnte offenbar sehr hilfreich sein im Umgang mit unliebsamen Verehrern.
*
Adrian fühlte sich völlig ausgelaugt, als er endlich nach Hause kam. Es war bereits Mittag, und ihm blieben nur wenige Stunden, bis er wieder in der Klinik sein mußte. Hoffentlich konnte er überhaupt schlafen. Es war ihm in der letzten Zeit öfter passiert, daß er wachgelegen hatte, weil es ihm nicht gelungen war abzuschalten. Das konnte er heute nicht gebrauchen.
Aber natürlich ging ihm Andreas Hollaender noch immer im Kopf herum. Er hatte im OP getan, was er konnte, aber er war keineswegs sicher, daß das in diesem Fall auch genug gewesen war. Noch immer war er fassungslos darüber, daß der junge Mann sich ohne Not in Lebensgefahr gebracht hatte.
Er war sofort nach der Operation auf die Intensivstation gelegt worden, wo man direkt begonnen hatte, ihn mit Antibiotika zu behandeln, um die stark drohende Bauchfellentzündung eventuell doch noch zu verhindern.
»Adrian, wieso kommen Sie denn erst jetzt?« fragte Frau Senftleben. »Sie hatten doch Nachtdienst!« Sie stand in ihrer Wohnungstür, und er sah, daß sie sich wieder einmal Sorgen um ihn gemacht hatte.
»Ich bin für einen Kollegen eingesprungen heute morgen, Frau Senftleben, und dann kam ein Notfall, den ich leider selbst operieren mußte. So ist das ja meistens. Und jetzt bin ich fix und fertig.«
»Ihr Frühstück ist auch fix und fertig«, sagte sie. »Kommen Sie rein, essen Sie – und dann gehen Sie sofort ins Bett!«
Er widersprach nicht. Etwas essen mußte er, und Frau Senftleben ließ ihn in Ruhe, wenn sie spürte, daß er nicht reden wollte. Er folgte ihr in die Wohnung. Als er den gedeckten Tisch in der Küche sah, lächelte er unwillkürlich. »Verraten Sie mir eins, Frau Senftleben: Wieso ist das Frühstück jetzt fertig, wenn Sie doch damit rechnen mußten, daß ich im Morgengrauen nach Hause komme – zu einer Zeit, wo Sie ja immer wie ein Murmeltier schlafen?«
»Intuition«, sagte sie. Dann lachte sie und fügte hinzu: »Ich bin, ehrlich gesagt, erst um elf aufgestanden, und ich wußte gar nicht, daß Sie nicht zu Hause sind. Ich wollte eben frühstücken, und nun finde ich es sehr nett, wenn ich dabei Gesellschaft habe.« Schnell stellte sie ein zweites Gedeck auf den Tisch und bat ihn, Platz zu nehmen.
Das tat Adrian, und als er die erste Tasse Kaffee getrunken und das erste Brötchen gegessen hatte, fühlte er sich bereits viel besser. Schließlich erzählte er Frau Senftleben von dem jungen Mann, den er hatte operieren müssen. »Der Patient hatte eine Blinddarmentzündung, er hätte längst operiert werden müssen.«
»Und das ist so gefährlich?« fragte Frau Senftleben verwundert.
»Ja, das ist es«, bestätigte
Adrian. »Wenn man nicht rechtzeitig operiert wird, kann es dazu kommen, daß der entzündete Teil des Darms aufbricht und den gesamten Bauchraum mit Bakterien überschwemmt. Und genau das ist in diesem Fall passiert. Das kann eine Entzündung des Bauchfells hervorrufen, und die kann, je nachdem, wie schwer sie ist, auch heute noch lebensgefährlich sein.«
»Ich dachte immer, eine Blinddarmentzündung ist harmlos«, meinte sie nachdenklich.
»Das denken viele. Blinddarm – da winken alle ab, das ist reine Routine. Aber eben nur, wenn es rechtzeitig gemacht wird.«
»Aber dieser junge Mann muß doch Schmerzen gehabt haben, oder?«
»Sicher, aber er hat sie wohl nicht ernst genommen. Oder er hat sie nicht wahrhaben wollen.«
»Wie alt ist er, sagten Sie?«
»Dreiundzwanzig«, murmelte Adrian etwas niedergedrückt. »Dreiundzwanzig Jahre, und jetzt schwebt er in Lebensgefahr, das muß man sich einmal vorstellen.«
Frau Senftleben schob ihm noch ein Brötchen hin. »Hier, bitte. Essen Sie. Sie müssen bei Kräften bleiben.«
»Keine Sorge, Frau Senftleben. Wer eine Nachbarin wie Sie hat, hat keinerlei Chancen, entkräftet zusammenzubrechen.«
»Das wäre ja auch noch schöner«, sagte sie empört, aber ihre blauen Augen lächelten.
Er blieb noch eine Viertelstunde, dann verabschiedete er sich. »Danke, Frau Senftleben, ich weiß gar nicht, wie ich mein Leben organisiert habe, bevor ich Sie kannte!«
Das hörte sie gern, und ihr fröhliches Lachen folgte ihm bis in seine Wohnung.
*
Andreas kam nicht zurück. Und Franziska hatte er einfach mitgenommen. Mittlerweile war Katja davon überzeugt, daß Andreas sie verlassen hatte. Offenbar war ihr Streit für ihn doch ernster gewesen, als sie zunächst angenommen hatte.
Jedenfalls war er weg. An Schlaf war natürlich nicht mehr zu denken gewesen, als sie von ihrer erfolglosen Suche nach Hause zurückgekehrt war. Zuerst hatte sie