war plötzlich wie auf Kommando verstummt, als hätte sie gemerkt, daß es sehr unpassend gewesen wäre, jetzt zu weinen. Ängstlich sah sie von der fremden Frau, die sie noch immer auf dem Arm hielt, zu ihrem Papa, der zusammengekrümmt auf einer Bank lag.
»Sie müssen ins Krankenhaus, Herr Hollaender. Ich glaube, Sie haben eine Blinddarmentzündung«, sagte Esther ruhig. »Ich würde gern Ihren Bauch abtasten.«
Sie streckte die Hand aus, aber er zuckte erschrocken zurück. »Bitte nicht!« flüsterte er. »Es tut so weh!«
»Ich bin ganz vorsichtig«, versprach Esther. Das war sie auch, aber dennoch schrie er unterdrückt auf vor Schmerzen.
»Wie lange haben Sie diese Beschwerden schon, Herr Hollaender?«
»Ein paar Tage«, antwortete er. »Aber das war… nichts Ernstes… echt nicht. Richtig schlimm…«, er unterbrach sich und biß sich heftig auf die Lippen. Erst nach einigen Sekunden konnte er weitersprechen. »Richtig schlimm ist es erst heute nacht geworden. Ich… habe mir dann… eine Wärmflasche auf den Bauch gelegt. Danach bin ich eingeschlafen.«
»Auch das noch«, murmelte Esther entsetzt. Eine Wärmflasche bei Blinddarmentzündung! Sie wählte rasch eine Nummer, wartete auf Antwort und sagte dann: »Einen Rettungswagen, schnell bitte. Verdacht auf Peritonitis.«
Sie sah sich um und gab ihren genauen Standort an. Dann fügte sie hinzu: »Der Patient ist eben zusammengebrochen, er liegt jetzt auf einer Bank.« Noch einmal hörte sie zu. »Ja, ich bin Ärztin. Dr. Berger, Charité.« Danach war das Gespräch beendet.
Andreas stöhnte laut, sein Gesicht war mittlerweile wachsbleich und schweißbedeckt. »Fränzchen«, murmelte er. »Was wird denn mit Fränzchen?«
»Machen Sie sich darüber jetzt keine Gedanken«, sagte Esther. »Sie werden in eins der Krankenhäuser gebracht – je nachdem, welche Notaufnahme noch Kapazitäten hat, und dann…«
»Kurfürsten-Klinik«, sagte Andreas. »Dahin will ich!« Er schloß die Augen und krümmte sich erneut. Sein Stöhnen war diesmal so laut und klang so furchterregend, daß Franziska erneut anfing zu weinen.
»Schtscht!« machte Esther. »Nicht weinen, Schätzchen, bald geht’s dem Papa ja besser.«
Franziska verstummte jetzt tatsächlich, aber in ihren Augen standen dicke Tränen. Esther streichelte ihre Wange. »Wird alles wieder gut, du mußt nicht weinen!« Sie beugte sich über Andreas. »Herr Hollaender! Wieso wollen Sie denn in die Kurfürsten-Klinik? Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«
»Ja, meine Freundin«, murmelte Andreas. Weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick hielt der Rettungswagen. Sofort sprangen zwei Sanitäter mit einer Trage heraus. Esther winkte ihnen zu.
»Ist er das?« fragte einer der beiden Männer.
»Ja, sein Name ist Andreas Hollaender. Er will unbedingt in die Kurfürsten-Klinik, aber ich habe noch nicht herausbekommen, warum eigentlich«, sagte Esther leise.
»Da bringen wir ihn tatsächlich hin, Frau Doktor. Die haben sich bereiterklärt, ihn zu nehmen. Er kann von Glück sagen…«
»Kurfürsten-Klinik«, flüsterte Andreas. »Meine Freundin, sie ist da…«
Esther und die Sanitäter wechselten einen Blick, Esther hob ratlos die Schultern. »Beeilen Sie sich«, flüsterte sie. »Er hat die Beschwerden schon seit mehreren Tagen.«
»Okay, Frau Doktor!«
Sie machten sich daran, Andreas Hollaender vorsichtig auf die Trage zu heben. Dennoch stöhnte er laut vor Schmerzen.
»Wiedersehen, Herr Hollaender, alles Gute!« sagte Esther.
Aber der Patient hörte sie nicht. Er hatte das Bewußtsein verloren. Die Männer liefen im Eilschritt zurück zum Wagen, und sie hatten bereits wieder Platz genommen, als Esther plötzlich verdutzt auf das Kind in ihren Armen sah. »Halt!« schrie sie. »Das Baby! Das ist seine Tochter!«
Doch es war zu spät. Das Martinshorn erklang, der Wagen setzte sich in Bewegung und war Sekunden später bereits ihren Blicken entzogen.
»Und nun, Fränzchen?« fragte Esther ratlos und sah das Kind an, das den Blick erwiderte. »Was mache ich denn jetzt mit dir? Und warum wollte dein Papa in die Kurfürsten-Klinik? Wegen deiner Mama? Die wird doch nicht auch krank sein und dort liegen?«
Franziska verzog das Gesicht, aber sie weinte nicht. »Du kommst erstmal mit mir in die Charité«, beschloß Esther. »Dann rufe ich meinen Bruder an, der arbeitet nämlich in der Kurfürsten-Klinik. Und danach sehen wir weiter. Hoffentlich geht mit deinem Papa alles gut.«
Franziska zeigte überraschend ein niedliches, zahnloses Lächeln. Sie hatte ihren Kummer, so schien es, zumindest vorübergehend vergessen.
*
»Wir bekommen einen Patienten mit Verdacht auf Peritonitis!« rief Schwester Sara, die in dieser Woche tagsüber Dienst in der Notaufnahme hatte.
»Peritonitis?« fragte Adrian. »Wer sagt das, der Notarzt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er ist auf der Straße zusammengebrochen, eine Ärztin war bei ihm, sie hat die Rettung angerufen. Angeblich hat er die Beschwerden schon ein paar Tage.«
»Ach, du liebe Zeit«, sagte Adrian. Gemeinsam eilten sie in eine der Notfallkabinen. »Kochsalz und Antibiotika«, sagte
Adrian. »Und benachrichtigen Sie vorsichtshalber einen OP. Wissen Sie, wie alt der Mann ist, Sara?«
»Jung, glaube ich«, antwortete sie.
Die Türen flogen auf, zwei Sanitäter stürmten herein. »Ist das die Peritonitis?« fragte Adrian.
»Ja, Doktor. Sein Name ist Andreas Hollaender, er ist dreiundzwanzig Jahre alt, hat seit einigen Tagen unklare Bauchschmerzen, Schwindel, Erbrechen, Bauchspannung, äußerst druckempfindlich. War zwischendurch bewußtlos.«
»Herr Hollaender?« fragte Adrian und tastete äußerst vorsichtig den Bauch des Patienten ab, der sofort lauf aufstöhnte. Sonst sagte er nichts. Adrian rief: »Sara!«
Die Schwester kam atemlos herein.
»Die Infusion, schnell! Und dann muß er nach oben, wir haben keine Sekunde zu verlieren. Ist der OP benachrichtigt?«
»Ja, einen Raum haben wir, einen Anästhesisten auch – Herr Dr. Roloff ist zum Glück frei –, aber sonst steht kein Team zur Verfügung. Sie müssen selbst operieren, Herr Dr. Winter.«
»Ich habe eine lange Nachtschicht hinter mir!« sagte Adrian.
Wieder stöhnte der Patient laut auf.
Die Sanitäter verabschiedeten sich. »Der nächste Einsatz, Doktor, bis bald.«
»Bis bald, danke«, sagte Adrian und wandte sich wieder an Schwester Sara. »Er hätte einen ausgeruhten Arzt verdient.«
»Aber es ist keiner da«, antwortete sie.
Adrian nickte. »Herr Hollaender, können Sie mich hören?«
»Ja«, kam die Antwort.
»Wir müssen Sie operieren, haben Sie das verstanden?«
»Ja. Blinddarmentzündung, oder?«
»Ja«, antwortete Adrian ernst, »und ich hoffe sehr, daß er noch nicht durchgebrochen ist.« Er wandte sich an Schwester Sara. »Los, worauf warten wir noch? Sie werden mir assistieren müssen.«
Sie nickte. »Ich habe den anderen schon Bescheid gesagt, Dr. Winter.«
»Gut, dann los!«
In diesem Augenblick schrie Andreas Hollaender laut auf und krümmte sich unwillkürlich zusammen. Seine Augen waren auf das Gesicht des Arztes gerichtet, und Adrian las die Angst darin. »Bitte, helfen Sie mir!« flüsterte der junge Mann. »Ich sterbe sonst.«
»Ich helfe Ihnen, und Sie sterben keineswegs«, sagte