und es war eine schreckliche Angelegenheit, weil es viel zu spät war. Er müßte jetzt nicht hier liegen und um sein Leben kämpfen, wenn er rechtzeitig einen Arzt aufgesucht hätte.«
»In dem Alter denkt man, daß man unsterblich ist, Herr Winter.«
Adrian sah auf und lächelte unwillkürlich. »Sehr viel älter als der Patient sind Sie doch auch nicht! Halten Sie sich für unsterblich?«
»Nein, aber ich bin Arzt, und das ist etwas anderes, glaube ich.«
»Da mögen Sie recht haben«, gab Adrian zu. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, bleibe ich noch ein bißchen hier. Wie gesagt, zu Hause könnte ich doch nicht schlafen.«
»Natürlich macht es mir nichts aus, im Gegenteil. Ich bin froh, wenn ihn jemand im Auge behält. Wir sind hier ohnehin überlastet, da ist uns jeder willkommen, der uns Arbeit abnimmt.« Der junge Kollege nickte Adrian noch einmal zu und verließ den Raum.
Los, Andreas Hollaender, dachte der Arzt, nun mach endlich deine Augen auf, damit ich weiß, daß du über den Berg bist. Ich glaube es nämlich sonst nicht! »Herr Hollaender?« fragte er laut und erschrak fast über seine eigene Stimme.
Aber der bleiche junge Mann rührte sich nicht, und auch seine Lider flatterten dieses Mal nicht. Sein Atem war flach, seine Brust hob und senkte sich kaum sichtbar. Nur seine Hände zuckten ab und zu unruhig über die Bettdecke.
Adrian seufzte und lehnte sich zurück, während er den Patienten nicht aus den Augen ließ. Er würde bleiben – und wenn er vor Müdigkeit vom Stuhl fiel. Er konnte jetzt einfach nicht gehen.
*
»Was ist denn nun schon wieder los?« fragte Stefanie Wagner ungeduldig, und ihre Stimme klang so unfreundlich, daß sie selbst erschrak.
Gut, sie konnte den Personalchef nicht leiden, doch das mußte sie ihn ja nicht unbedingt bei jedem ihrer Treffen so deutlich spüren lassen. Aber nun war sie extra früh ins Hotel gekommen, um liegengebliebene Arbeiten zu erledigen – und schon wieder stand dieser unfähige Mann vor ihr, der sie außerdem auf eine Art und Weise anhimmelte, die sie auf den Tod nicht ausstehen konnte. Je unfreundlicher sie war, desto mehr bewunderte er sie. Und was tat er überhaupt um diese frühe Uhrzeit schon hier?
»Es geht noch einmal um Herrn Hollaender, Frau Wagner.«
Das also war’s – um halb acht Uhr morgens!
»Was hat er zu seiner Entschuldigung vorgebracht?« fragte Stefanie, und dieses Mal achtete sie darauf, daß ihr Tonfall ruhig und beherrscht war. »Ich möchte übrigens selbst auch noch einmal mit ihm sprechen. Es geht nicht, daß solche Sachen einreißen. Bestimmte Regeln müssen wir schließlich alle einhalten.«
»Da stimme ich vollkommen mit Ihnen überein«, erklärte der Personalchef mit verbindlichem Lächeln. »Leider konnten wir bisher mit Herrn Hollaender keinen Kontakt aufnehmen, denn bei ihm zu Hause haben wir niemanden angetroffen.«
»Wirklich niemanden angetroffen? Aber er hat ein Kind, das muß regelmäßig gefüttert werden, und schlafen muß es auch – er muß also öfter mal zu Hause sein.«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis«, erwiderte der Personalchef würdevoll. »Wir haben es zu verschiedenen Zeiten probiert, aber uns wurde nicht aufgemacht.«
»Ich hoffe, Sie haben ihm wenigstens eine Nachricht in den Briefkasten gesteckt, daß er sich schleunigst hier melden soll?«
»Jawohl, Frau Wagner. Bisher ist jedoch keine Kontaktaufnahme erfolgt.«
Er machte sie wahnsinnig mit seiner gestelzten Art zu reden, aber sie beherrschte sich eisern. Am liebsten wäre sie ihm über den Mund gefahren, doch das würde sie in dieser Angelegenheit auch nicht weiterbringen. Hoffentlich war Andreas Hollaender nichts passiert. Sie fing an, sich Sorgen um ihn zu machen.
»Danke für die Information«, sagte sie knapp. »Bleiben Sie dran und geben Sie mir Bescheid, wenn Sie ihn gefunden haben.«
»Selbstverständlich«, sagte er und verließ ihr Büro.
Sie lehnte sich aufatmend zurück. Endlich war sie den Kerl los – bis zum nächsten Mal. Denn er würde schon bald etwas anderes finden, das er auch wieder ganz dringend mit ihr besprechen mußte, obwohl es eigentlich ganz allein seine Sache war.
Sie wollte sich gerade den unerledigten Arbeiten auf ihrem Schreibtisch zuwenden, als das Telefon klingelte. »Ja?« fragte sie, schon wieder mit Unwillen in der Stimme. Wollte man sie denn an diesem Morgen überhaupt nicht arbeiten lassen?
»Frau Wagner, ich habe eine Frau Senkenberg am Apparat, die ganz dringend mit Ihnen sprechen möchte. Katja Senkenberg. Sie sagt, es geht um einen Herrn Hollaender.«
»Stellen Sie durch«, bat Stefanie die Frau in der Zentrale.
*
Katja raste wie eine Verrückte zurück zur Kurfürsten-Klinik. Sie hatte zum Glück gleich eine U-Bahn erwischt, den Rest des Weges rannte sie, als wolle sie einen Rekord aufstellen.
Diese Frau Wagner war wirklich nett gewesen am Telefon und hatte ihr gesagt, daß Andreas im Hotel auch schon vermißt worden war! Sie hatte ihr sogar Hilfe angeboten, aber wie sollte sie ihr schon helfen? Sie kannten einander ja nicht einmal.
Andreas war also mit Franziska verschwunden, und allmählich fragte sie sich, ob den beiden nicht vielleicht etwas passiert war. Allerdings glaubte sie das eigentlich nicht, Andreas konnte nichts passieren, davon war sie im Grunde ihres Herzens überzeugt. Er war immer so stark und unerschütterlich!
Aber als sie die leere Wohnung vorhin betreten hatte, war ihr doch fast das Herz stehengeblieben. Sie hatte sich auf dem Weg nach Hause so fest eingeredet, daß er bereits mit dem Frühstück auf sie warten würde, daß es ein richtiger Schock gewesen war, ihn nicht anzutreffen. Und Franziska? Bei dem Gedanken stiegen ihr unwillkürlich wieder Tränen in die Augen. Sie vermißte ihre kleine Tochter, und sie war ganz sicher, daß es dem Kind ebenso erging. Wo steckte Andreas nur?
Sie hatte kurz überlegt, die Polizei einzuschalten, diesen Gedanken aber schnell wieder von sich geschoben. Das war ja einfach lächerlich! Sie konnte förmlich hören, was man ihr sagen würde: »Junge Männer mit Babys gehen nicht so leicht verloren, Frau Senkenberg. Gehen Sie mal schön nach Hause und waren Sie auf ihn. Er wird schon wieder auftauchen.«
Nein, danke, das konnte sie jetzt wirklich nicht gebrauchen. Sie wollte mit Dr. Winter reden, zu ihm hatte sie Vertrauen. Sie hätte auch mit Frau Dr. Martensen sprechen können, die in der vergangenen Nacht wirklich sehr freundlich zu ihr gewesen war, aber die hatte die Klinik ja bereits verlassen.
Dr. Winter dagegen war noch bei diesem Patienten gewesen, den er operiert hatte. Hoffentlich erwischte sie ihn noch, bevor er ebenfalls ging. Er war ja sicher auch müde und wollte nach Hause. Sie versuchte, nicht daran zu denken, daß Dr. Winter ihr wahrscheinlich nicht helfen konnte. Aber er würde ihr zuhören und ihr wenigstens einen Rat geben können, was sie nun tun sollte.
Keuchend erreichte sie die Klinik und stürzte zuerst in die Notaufnahme. »Ist Dr. Winter noch da?« rief sie.
»Hier ist er nicht«, kam die Antwort. »Sein Dienst ist längst zu Ende.«
»Das weiß ich doch«, erwiderte Katja. »Als ich ging, war er noch auf der Intensivstation und hat nach einem Patienten gesehen. Ist er danach nicht noch einmal hiergewesen?«
»Nein, ist er nicht«, kam die trockene Antwort von einer bereits jetzt völlig erschöpft aussehenden Ärztin.
Katja überlegte nicht lange, lief zu den Fahrstühlen und drückte ungeduldig auf einen der Knöpfe. Dann mußte sie ihn eben auf der Intensivstation suchen. Wenn er nur noch da war! Die Vorstellung, mit ihrem Problem vielleicht völlig allein zu bleiben, war unerträglich.
*
Andreas öffnete die Augen und erschrak. Neben ihm saß ein Mann, den er nicht kannte, der schlief. Und er lag in einem Raum, den er noch nie in seinem Leben gesehen hatte.
Was