Er wurde zum Aufwachen auf die Intensivstation gebracht, aber danach sollte er gleich zu Dr. Eder auf die Kinderstation verlegt werden.
Gabriele saß an seinem Bett, wie sie es versprochen hatte, damit er sie sofort sah, wenn er aufwachte. Es war bereits Morgen, als er zum ersten Mal die Augen aufmachte, sie nur kurz ansah, »Mama«, murmelte und sofort wieder einschlief.
Sie hielt seine Hand und war unendlich froh, daß ihm nichts Schlimmeres passiert war – obwohl immer noch die Gefahr bestand, daß er eine Lungenentzündung bekam. Aber daran wollte sie gar nicht denken. Er sollte jetzt nur noch schnell gesund werden.
Und dann würde sie mit ihm über eine Operation zur Verlagerung seiner Hoden sprechen. Sie hatte in dieser Nacht viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken, und sie wußte auch schon, wen sie fragen würde. Sie würde Adrian Winter bitten, diese Operation durchzuführen.
Sie war am Ende wohl doch noch eingeschlafen, denn sie wurde von Florians Stimme wach, der leise fragte: »Mama, schläfst du?«
»Ja«, antwortete sie lächelnd und öffnete die Augen. »Aber nur ein ganz kleines bißchen. Und du? Wie geht es dir?«
»Geht so«, nuschelte er. »Der Kopf tut mir weh.«
»Du hast eine Gehirnerschütterung«, sagte sie. »Da tut einem immer der Kopf weh. Weißt du eigentlich, daß du großes Glück gehabt hast, Flo? Ich darf gar nicht daran denken, was euch beiden, Max und dir, alles hätte passieren können.«
»Ach«, meinte Florian wegwerfend. »So schlimm war das nicht.« Die Angst, die er gehabt hatte, war für den Moment vergessen. Jetzt fühlte er sich wie ein Held, der ein gefährliches Abenteuer siegreich bestanden hatte.
»Doch«, widersprach Gabriele. »Es war wohl so schlimm! Bei deinem Sturz auf dieses Steinbecken…« Erneut kamen ihr die Tränen, als ihr bewußt wurde, in welcher Gefahr die Jungen tatsächlich gewesen waren.
»Ach, Mama!« sagte Florian. »Nun wein doch nicht!«
»Gut«, sie schniefte noch ein bißchen, dann wischte sie sich energisch die Tränen ab, »ich weine nicht mehr, und du versprichst mir, daß du so etwas nie mehr in deinem ganzen Leben machst!«
»Weglaufen?« erkundigte sich Florian.
Sie nickte. »Weglaufen und nicht mit mir reden, wenn du Kummer hast.«
Er dachte nach. »Na gut«, sagte er schließlich großzügig. »Ich versprech’s dir. Aber, Mama…« Er brach ab und kaute auf seiner Unterlippe herum.
»Ja?« fragte sie.
»Könnte ich nicht vielleicht doch operiert werden? Ich will nicht mehr, daß mich jemand damit aufzieht.«
Sie nickte und lächelte. »Das will ich auch nicht, Flo. Ich habe ziemlich lange darüber nachgedacht und glaube, daß du recht hast. Wir sollten dich jetzt doch operieren lassen.«
Er strahlte und sah auf einmal gar nicht mehr krank und blaß aus. »Super, Mama!« sagte er.
Dann fielen ihm erneut die Augen zu, und auch Gabriele fiel noch einmal in einen unruhigen Schlaf.
*
Max schlief bis zum späten Vormittag. Als er erwachte, kam es ihm zunächst so vor, als habe er alles, was passiert war, nur geträumt. Dann aber fiel sein Blick auf seine Schultasche, aus der noch die Sachen ragten, die er eingepackt hatte, damit Florian und er ein paar Tage ›überleben‹ konnten, und er begriff, daß sie wohl wirklich ausgerissen waren.
Er sprang aus dem Bett und rannte in die Küche, wo er zu seiner großen Überraschung seine Mutter und seinen Vater vorfand. »Arbeitet ihr heute nicht?« fragte er.
»Nein, tun wir nicht«, antwortete sein Vater, und seine Mutter fragte: »Gut geschlafen?«
Max nickte. »Ich hab’ Hunger«, verkündete er. »Und dann möchte ich Flo besuchen.«
»Das haben wir uns schon gedacht. Seine Mutter hat übrigens angerufen, er hat die Operation bestens überstanden. Jetzt tut ihm noch der Kopf weh wegen der Gehirnerschütterung, aber sonst geht’s ihm ganz gut.«
Max häufte sich verschwenderisch Marmelade auf sein Brötchen, aber niemand ermahnte ihn deshalb. Er beschloß, die Gunst der Stunde zu nutzen, und schob noch einen weiteren Löffel nach. »Mann!« sagte er kauend. »Echt cool, daß ich wieder hier bin. Besonders gemütlich war es da draußen wirklich nicht.«
»Da sind wir aber froh«, bemerkte sein Vater trocken und schwenkte einen Brief. »Der kam übrigens heute morgen an. Wenn ich mir vorstelle, wir hätten diesen Brief gefunden, ohne zu wissen, daß du längst wieder wohlbehalten in deinem Bett liegst – ich glaube, wir wären verrückt geworden vor Angst um dich.«
»Echt?« fragte Max. »Aber wir haben doch extra geschrieben, um euch zu beruhigen. Da steht doch alles ganz genau drin.«
»Max!« sagte seine Mutter nun, und ihre Stimme klang so ernst und eindringlich, daß er sich ungehaglich zu fühlen begann. »Das war sehr gefährlich, was ihr gemacht habt, das ist dir doch hoffentlich mittlerweile klar?«
»Nur weil Flo von der Mauer gefallen ist…«
»Damit hat das gar nichts zu tun. Es laufen nicht nur Leute auf der Straße herum, die es gut mit kleinen Jungen meinen. Darüber haben wir doch schon oft genug gesprochen.«
»Ich bin kein kleiner Junge!« sagte Max. »Ich bin sieben und werde bald acht.«
Sein Vater stand auf, schlug beide Arme so um seinen Körper, daß Max sich nicht mehr bewegen konnte, hob ihn hoch und sagte: »Ich entführe dich jetzt. Nun wehr dich mal!«
Max versuchte es, aber sein Vater hielt ihn mit eisernem Griff fest. Da nützte es nichts, daß Max mit den Füßen trat und strampelte. Endlich ließ Herr Sennelaub seinen Sohn los. »Reicht das, um dir klarzumachen, daß du gegen einen Erwachsenen keine Chance hättest?« fragte er.
Max senkte den Kopf und nickte. »Ja«, sagte er leise. »Aber wir waren doch zu zweit, Flo und ich.«
»Erwachsene sind manchmal auch zu zweit«, erwiderte sein Vater, und dagegen konnte Max nichts mehr vorbringen.
»Ich wollte doch bloß Flo nicht allein lassen«, sagte er unglücklich. »Das wär’ doch noch viel schlimmer gewesen, wenn er allein ausgerissen wäre.«
»Das stimmt«, meinte seine Mutter. »Aber besser wäre es gewesen, ihr hättet mit uns geredet.«
»Flo hat gemeint, das nützt nichts. Seine Mutter wird eher diesem Rainer glauben als ihm.«
»Da hat Flo sich aber ganz schön geirrt«, sagte Frau Sennelaub. »Willst du uns jetzt vielleicht mal die ganze Geschichte von Anfang an erzählen?«
»Mhm«, machte Max. Eigentlich hatte er gar keine richtige Lust mehr dazu, aber als er erst einmal begonnen hatte, konnte er auf einmal gar nicht mehr aufhören zu erzählen.
*
Einige Wochen später lag Florian Plessenstein erneut auf dem Operationstisch. Es war Dr. Adrian Winter, der die Operation vornahm, durch die Florians Hoden aus der Bauchhöhle an die richtige Stelle verlegt werden sollten.
Gabriele war sehr nervös während der Operation, aber sie hatte darauf verzichtet, im OP anwesend zu sein, obwohl Adrian es ihr angeboten hatte.
»Vielleicht beruhigt es Sie, wenn Sie dabei sind«, hatte er gesagt, doch sie hatte abgelehnt. Sie kannte sich schließlich. Zuzusehen, wie ihr eigener Sohn aufgeschnitten würde, ging über ihre Kräfte.
Sie saß mit Konrad Eder in einem der Warteräume und versuchte vergeblich, ruhig zu erscheinen. Konrad hatte an diesem Tag frei und war, wie es
schien zufällig, irgendwann aufgetaucht und hatte sich neben sie gesetzt.
»Frau Plessenstein«, sagte er schließlich, »was kann ich tun, um Sie ein bißchen abzulenken? Sie helfen doch Ihrem Sohn nicht, wenn Sie sich jetzt verrückt machen! Es ist keine schwere Operation.