angsterfüllten Augen sah die Patientin ihn an. »Was vermuten Sie?«
Er winkte ab. »Erst will ich ganz sicher sein. Ein bißchen Geduld noch, Frau Trautmann.«
Er tastete den Bauchbereich nochmals genauer ab, drückte im Nabelbereich fester zu – und fand die erste Feststellung bestätigt: Im Bereich des linken Nabelfeldes war eine deutlich tastbare walzenförmige Verdickung festzustellen.
»Das sieht mir ganz nach einem Darmverschluß aus«, sagte Dr. Winter.
Erschrocken sah die Kranke ihn an. »Muß ich operiert werden?« fragte sie.
»Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit. Mit so einem Darmverschluß ist nicht zu spaßen. Und da Sie sagten, Sie hätten schon seit der Nacht Beschwerden… ich denke, wir sollten nicht zögern.« Noch einmal tastete er konzentriert die betroffen Stelle ab, und nun war er sich seiner Sache ganz sicher: Hier lag ein massiver Verschluß vor, und je eher man operierte, um so besser für die Patientin.
»Sie sagten, daß Sie gestern gut gegessen haben. Wie war heute Ihr Frühstück?«
»Das ist ausgefallen«, sagte Frau Trautmann, und ihre Stimme wurde immer schwächer. »Mir war einfach nicht danach. Ich… Oh, mein Gott, mir wird schlecht.«
Jetzt zögerte Adrian nicht länger. »Bernd!« rief er.
Dr. Schäfer war wenig später neben ihm. »Bist du fertig mit dem Jungen?« wollte Dr. Winter wissen.
»Gerade eben hat ihn die Muttter abgeholt.«
»Prima. Dann sei so gut und kümmere dich persönlich um Frau Trautmann. Darmverschluß. Ich telefoniere mit dem diensthabenden Kollegen von der Chirurgie. Sie sollte so rasch wie möglich in den OP.«
»Geht schon klar.« Bernd Schäfer legte der Malerin beruhigend die Hand auf den Arm. »Vertrauen Sie sich mir ruhig an«, meinte er mit jenem gutmütigem Lächeln, das ihm stets alle Herzen gewann. »Ich habe bei Dr. Winter gelernt – das meiste jedenfalls. Und unser diensthabender Chirurg ist schon ein Ass.«
»Könnten Sie nicht selbst operieren, Herr Dr. Winter?« Bittend sah Frau Trautmann zu Adrian hin.
Doch der schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich hab’ Dienst hier unten in der Notaufnahme. Aber seien Sie unbesorgt, ich weiß, daß Sie bei den Kollegen in den besten Händen sind.«
Sie nickte nur. Eine neue Schmerzwelle überrollte sie, und nahm ihr jede Möglichkeit, noch Einwände zu erheben. Sie hatte nur noch einen Wunsch: daß dies alles so schnell wie möglich zu Ende war!
Adrian Winter sah ihr nach, als sie hinausgerollt wurde. Sie hatte Glück im Unglück gehabt – ein zu lange verschleppter Darmverschluß konnte wirklich üble Konsequenzen nach sich ziehen.
Bedauernd sah der Arzt auf die Uhr. Schade, für ein warmes Mittagessen war’s jetzt zu spät. Blieb also wieder nur ein Snack – und die Hoffnung, daß die liebenswerte Frau Senftleben ein bißchen was für ihn mitgekocht hatte…
*
Es regnete in Strömen, als Dr. Markus Reinhardt seinen ersten Nachtdienst beendete.
Er war jetzt schon seit drei Wochen an der Kurfürsten-Klinik, und hatte sich schon gut eingelebt.
Vor allem mit Schwester Walli verstand er sich hervorragend. Die patente Oberschwester, die ihren bayrischen Heimatdialekt immer noch nicht ganz abgelegt hatte, war ihm sehr sympathisch. Doch inzwischen wußte er schon, daß sie der Liebe wegen ihre Heimat verlassen hatte. Ihr Freund lebte in Berlin, und um ihm nahe sein zu können, war auch sie in die Hauptstadt gezogen.
Walli war ausgesprochen panikstabil, das hatte sich erst gestern wieder gezeigt, als gegen Abend ein Mann eingeliefert worden war, der sich mit der Säge drei Finger abgetrennt hatte.
Walli hatte die Nerven behalten, sofort nach den abgetrennten Fingergliedern gefragt und dafür gesorgt, daß sie, die man natürlich am Unfallort vergessen hatte, so rasch wie möglich in die Klinik geschafft wurden.
Dr. Winter versorgte die Wunde, reinigte, desinfizierte – und stabilisierte den Kreislauf des hühnenhaften Patienten, der ganz offensichtlich kein Blut sehen konnte. Sein eigenes schon gar nicht, denn sobald er sich seine Hand ansah, seufzte er – und wurde für Sekunden ohnmächtig.
»Wir legen ihn richtig schlafen«, befahl Dr. Winter schließlich und ließ den Mann in den OP bringen, wo ihm Dr. Roloff, der Chefanästesist, eine Narkose verabreichte.
Während der Patient schlief, wurde seine Hand behandelt, und als endlich die Fingerglieder eintrafen, konnten die Chirurgen darangehen, sie wieder anzunähen. Es war ein sehr schwieriges Unterfangen, all die feinen Sehnen und Nerven miteinander zu verbinden, und Dr. Winter mußte mehrmals seinen schmerzenden Rücken strecken, ehe er zufrieden vom OP-Tisch zurücktreten konnte.
Markus Reinhardt hatte assistiert, und Adrian war froh, als der Freund jetzt die letzten Nähte legte und er selbst sich ein wenig ausruhen konnte.
Oberschwester Walli hatte den beiden Ärzten assistiert, da gerade mal wieder Personalmangel im OP-Team herrschte. Sie hatte zwar schon dienstfrei, aber da ihr Freund zur Zeit auf einer Weiterbildung war, machte sie klaglos ein paar Überstunden.
»Kann ich Sie nach Hause fahren?« bot Markus an, als er zusammen mit Walli aus der Klinik kam.
»Sie wohnen doch nur um die Ecke«, lachte sie.
»Aber ich habe seit vorgestern ein Auto – und Sie nicht, wie ich weiß. Also… mein Angebot gilt und ist sehr ehrenhaft gemeint.«
»Dann nehme ich an.«
Es regnete inzwischen noch heftiger, und gemeinsam liefen sie zum Parkplatz, wo Dr. Reinhardts neue Limousine stand. Walli wohnte etwa eine Viertelstunde von der Klinik entfernt, und wenn Markus Reinhardt sich nicht an einer Großbaustelle verfahren hätte, wären sie wohl nicht in der wenig ansprechenden Gegend gelandet, durch die sie plötzlich fuhren.
»Sie wären besser umgekehrt, als ich es Ihnen gesagt habe«, meinte Walli.
»Sie haben ja recht. Aber früher konnte man hier abkürzen.«
»Früher!« Walli lachte. »Seit Berlin völlig umgebaut wird, ist nichts mehr so, wie es mal war.«
Dem konnte er nur zustimmen. Und noch während er überlegte, wie er am besten wenden könnte, sah er auf einmal einen Mann, der unverhofft auf die Straße lief und wild gestikulierend auf sich aufmerksam machte.
Markus stoppte den Wagen und stieg aus. »Was ist denn passiert?« fragte er. »Um ein Haar hätte ich Sie nicht gesehen und überfahren.«
Erst jetzt bemerkte der junge Arzt, daß sie sich in einer Gegend befanden, in der die Menschen zu Hause waren, die vom Glanz der Großstadt nichts abbekommen hatten: Kleinkriminelle, Asoziale, Drogenabhängige – aber auch solche, die unverschuldet in Not geraten waren und nun mit einem Zuhause vorlieb nehmen mußten, das alles andere als menschenwürdig zu nennen war.
Auch der Mann, der sie aufgehalten hatte, wirkte recht ungepflegt und nicht gerade vertrauenerweckend. Dr. Reinhardt sah das schmale Gesicht, den brennenden Blick, die hageren Hände, die sich ihm jetzt hilfesuchend entgegenstreckten.
»Sie müssen uns helfen«, stieß der fremde Mann hervor. »Bitte, kommen Sie mit.«
»Wohin?«
Der junge Mann zuckte die Schultern. »Es ist nicht weit von hier. Der Straßenname würde Ihnen ja doch nichts sagen…«
»Aber ich kann meinen Wagen nicht einfach hier stehenlassen«, wandte Markus Reinhardt nochmals ein.
»Dann fahren Sie dort in die kleine Nebenstraße hinein.«
Walli steckte den Kopf aus dem Fenster. »Was ist los?« fragte sie. »Kann ich irgendwie helfen?«
Es war eine finstere Gegend. Ein paar dunkle Gestalten huschten über die Straße, in einem Haus hörte man lautes Geschrei, und in der Garageneinfahrt, die sie eben passierten,