er hörte, daß Esther da war, glitt ein kleines, müdes Lächeln über Adrian Winters Gesicht. Esther arbeitete als Kinderärztin an der berühmten Charié, wenn jemand dem Neugeborenen helfen konnte, dann nur sie, davon war er überzeugt.
Mit einer langsamen Bewegung, in der all seine Resignation lag, zog er sich den Mundschutz ab und ging in den kleinen Nebenraum, wo sich Dr. Esther Berger und zwei Schwestern um das kleine Mädchen bemühten, das viel zu zart war, um schon allein und ohne Hilfe überleben zu können.
»Wie gut, daß du gekommen bist.« Adrian beugte sich zu Esther hinunter und küßte sie kurz auf die Wange. »Wie sieht’s aus, hat die Kleine eine Chance?«
Esther zuckte die Schultern. »Kann ich jetzt noch nicht sagen. Sie ist winzig, aber Mädchen sind immer zäher als Jungs. Aber… ich befürchte, daß sie süchtig ist – wie ihre Mutter.«
»Das hab’ ich auch befürchtet. Armes Dingelchen. Da kommen schlimme Zeiten auf den Winzling zu.«
Esther antwortete nicht mehr, sie konzentrierte sich ganz darauf, das Baby zu untersuchen.
Nach einer Weile richtete sie sich auf und sagte: »An und für sich ist die Kleine erfreulich gesund – bis auf ihre Rauschgiftabhängigkeit. Wir müssen einen Entzug mit ihr machen, so grausam es auch ist.«
»Wie lange wird das dauern?« wollte Adrian Winter wissen.
»Erfahrungsgemäß ein paar Wochen – wenn keine Komplikationen eintreten. Soll ich das Baby mitnehmen in die Charitè?« Fragend sah sie ihren Bruder an.
Dr. Winter schüttelte den Kopf. »Mir wär’s lieber, wir könnten sie hierbehalten. Ist das zu verantworten?«
Esther lächelte. »Aber ja. Schließlich gibt’s hier auch hervorragende Ärzte. Und falls ihr mich braucht – ein Anruf genügt.«
»Danke.« Adrian Winter zog seine Schwester kurz an sich, dann beugte er sich über das Baby. »Wie niedlich sie ist…«
»Ich fühle mich irgendwie für sie verantwortlich«, sagte Dr. Reinhardt, der eben vom OP-Tisch zurückgetreten war, wo er eine abschließende Untersuchung der jungen Mutter vorgenommen hatte. Sie war völlig ausgemergelt gewesen, viel zu schwach im Grunde, um eine Schwangerschaft durchzustehen. Außerdem hatte ihr Herz Schaden genommen durch den hohen Drogenkonsum.
»Sie fühlen sich verantwortlich?« Esther sah den Kollegen, den sie noch nicht kannte, fragend an. »Warum?«
Markus zuckte die Schultern. »Ich weiß es auch nicht so genau. Vielleicht, weil ich ihre Mutter gefunden habe… Oder weil ich mal eine Frau kannte, die so aussah.« Er schüttelte über sich selbst den Kopf. »Das ist natürlich Unsinn. Ich meine, so, wie die Mutter unseres Babys in ihren besseren Zeiten ausgesehen haben muß… blond und zierlich. Ein Typ, den man immerzu beschützen möchte.«
»Romantiker«, sagte Adrian Winter leise.
Markus lächelte ein bißchen wehmütig.
»Vielleicht… Aber jetzt sagt: Was machen wir mit der Kleinen?«
»Sie kommt gleich in den Inkubator und dann auf die Säuglingsstation. Ihr habt doch hier speziell geschultes Personal?« Fragend sah Esther Berger ihren Bruder an.
»Aber ja. Die Kurfürsten-Klinik ist bestens ausgestattet – personell und auch technisch. Übrigens… personell gibt’s einen Neuzugang: ich darf dir Dr. Markus Reinhardt vorstellen, einen alten Freund aus Studientagen.«
Esther lächelte. »Dem Namen nach kenne ich Sie schon. Darf ich Markus sagen?« Sie reichte ihm die Hand. »Ich bin Esther und, wie Sie bestimmt schon wissen, die kleine Schwester dieses Starchirurgen.«
Die beiden Männer grinsten. »Sie hat dich durchschaut«, meinte Markus.
»Klar. Sie ist die Intelligentere von uns beiden. Aber jetzt Schluß hier. Ihr solltet heimfahren und versuchen, noch eine Mütze voll Schlaf zu bekommen. Ich kümmere mich um das Baby.«
Esther und Markus widersprachen nicht. Beide hatten einen langen, arbeitsreichen Tag hinter sich, und als sie nun gemeinsam die Kurfürsten-Klinik verließen, stellten sie fest, daß es schon auf Mitternacht zuging.
»Wir sehen uns bestimmt bald mal wieder.« Esther gab dem Kollegen die Hand. »Gute Nacht, Markus.«
»Gute Nacht, Esther. Schön, Sie kennengelernt zu haben.«
Sie winkte nur, dann eilte sie auf eines der Taxis zu, die ein paar Meter vom Klinikeingang entfernt parkten. Auch jetzt, zu dieser späten Stunde, standen noch zwei Wagen hier.
Erst als er zum Schwesternwohnhaus ging, fiel Dr. Reinhardt ein, daß er sich gar nicht mehr um Schwester Walli gekümmert hatte. Aber sie war gewiß schon vor ihm heimgefahren.
Das jedoch war ein Irrtum. Walli saß auf der Säuglingsstation im Schwesternzimmer und redete mit ihrer Kollegin Julia, die in dieser Nacht hier für alles verantwortlich war.
»Paß mir auf Klein-Katrin auf«, bat Walli. »Sie ist ein Schatz, und ich will unbedingt, daß sie durchkommt.«
Julia sah die Oberschwester fragend an. »Private Gründe?« fragte sie knapp.
Walli schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Aber… ich spüre einfach, daß mit diesem Kind etwas Besonderes ist.«
Julia zog es vor, darauf nichts zu antworten. Walli, die ansonsten so zupackend und bodenständig war, zeigte in diesem Fall besonders viel Herz. Nun denn, hier würde Katrin optimal versorgt werden, das stand fest. Eine Frage drängte sich ihr doch noch auf: »Wer hat sie Katrin getauft?«
Walli lächelte. »Ich. So wollte ich eigentlich immer heißen.«
»Na dann…« Sie stand auf und ging hinüber zu dem Inkubator, in dem das Baby lag und schlief. »Tante Walli hat dich soeben getauft, Katrin. Willkommen auf dieser Welt!«
*
Dr. Markus Reinhardt erfuhr am nächsten Mittag von der Namensgebung, und als er die dunkelhaarige Oberschwester zufällig auf dem Klinikflur traf, meinte er:
»Sie haben genau meinen Geschmack getroffen, Schwester Walli. Katrin ist ein sehr schöner Name.«
»Freut mich, daß er Ihnen gefällt. Irgendwie sind wir doch für die Kleine mitverantwortlich, nicht wahr? Und einen Namen braucht sie schließlich.«
»Ganz meine Meinung.«
Walli seufzte. »Am liebsten würde ich sie behalten. Sie ist so zart, so schutzbedürftig… Ich bete, daß sie den Entzug übersteht.«
Der Arzt nickte ernst. »Ja, es ist schon furchtbar, was drogenabhängige Mütter ihren Kindern antun. Aber irgendwie sind wir alle mitschuldig. Wir nehmen so wenig von dem Elend wahr, das in unserer unmittelbaren Nachbarschaft herrscht. Erst wenn wir mit der Nase draufgestoßen werden, empören wir uns – oder wir sind erschüttert und hilflos. So wie wir beide jetzt.«
»Wir sind nicht hilflos«, widersprach die temperamentvolle Walli und schüttelte den Kopf, daß die Haare, die in einem kleidsamen Pagenkopf geschnitten waren, um ihr Gesicht flogen. »Wir kümmern uns um Katrin! Und wir werden ihren Lebensweg verfolgen, Oder?« Mit schräggestelltem Kopf sah sie Markus an.
Der nickte. »Mit Sicherheit!«
Sie kamen nicht dazu, sich länger zu unterhalten, denn nach einem kurzen Blick auf die Uhr meinte der Arzt: »Ich muß dringend in den OP, Adrian Winter wird schon auf mich warten.«
»Was steht denn an?«
»Eine Magenoperation, ein einfacher Appendix, und, wenn der Patient heute so stabil ist wie gestern, eine Bypass-Operation an einem Sechzigjährigen.«
»Ach ja, Herr Bergmann. Seine Tochter ist eben gekommen.«
Als er den Namen Bergmann hörte, zuckte Dr. Reinhardt kurz zusammen. Christina Bergmann – sie war seine erste große Liebe gewesen. Doch als die Schule vorüber war, hatten sie sich aus den Augen verloren.