noch helfen.«
Während er kurz stehenblieb und wartete, daß Walli zu ihnen kam, dachte er, daß es wahrscheinlich besser sei, die junge Frau in der Nähe zu haben.
Gemeinsam mit dem jungen Mann, der immer wieder trocken hustete, erreichten sie nun ein altes, schon fast baufälliges Haus, das völlig dunkel war.
»Hier ist es«, meinte der Fremde. »Kommen Sie mit, Rita liegt im ersten Stock…«
Noch einmal zögerte Markus Reinhardt, dann kletterte er hinter dem Jungen die Treppe hoch.
»Sorry, aber Licht gibt’s hier schon lange nicht mehr«, sagte der junge Mann. Noch während er es sagte, ließ er ein Feuerzeug aufflammen, und Walli und der Arzt sahen, daß er noch ein ganz weiches, fast kindliches Gesicht hatte. Nur die Augen, die waren die eines Erwachsenen, der schon viel zuviel Leid und Elend gesehen hat.
»Hast ja jemanden gefunden, der uns helfen kann?« Plötzlich stand ein Mädchen mit langen blonden Haaren vor ihnen. »Ich… ich hab’ solche Angst. Vielleicht ist Rita schon tot.«
»Sag doch so was bitte nicht«, herrschte der junge Mann sie an. »Wo ist Oliver?«
»Bei ihr…«
»Und das Kind?«
»Keine Ahnung. Rita atmet nicht mehr. Glaub ich jedenfalls.«
Plötzlich war Dr. Reinhard in höchstem Maße alarmiert.
»Wovon sprechen Sie? Eventuell von einer Schwangeren, die kurz vor der Entbindung steht? Um Himmels willen, warum haben Sie nicht den Notarzt gerufen?«
»Sie sind vielleicht naiv?« sagte der junge Mann, der sie angesprochen hatte, leise. Dann ging er vorsichtig auf ein Zimmer zu, das völlig im Dunkeln lag. Nur in der hintersten Ecke brannten drei Kerzen und warfen zuckendes Licht auf ein schmutziges Matratzenlager.
Zusammengekauert lag eine Gestalt auf dem provisorischen Bett.
Erst als er sich tief über die junge Frau beugte, sah Markus Reinhardt die Spritze, die noch im Arm steckte. Auf dem ehemals hellen Laken waren Blutflecken, und der Arzt sah nun auch den hochgewölbten Leib der Frau.
»Ihr Gesicht war von schweißnassem Haar verdeckt, und auf den ersten Blick sah es wirklich so aus, als sei die junge Frau schon tot.
»Rita…!« Dr. Reinhardt versuchte sie behutsam umzudrehen, und der junge Mann, der neben der Matratze hockte und offenbar Oliver hieß, half ihm dabei.
Jetzt konnte der Arzt die zarten Gesichtszüge erkennen, und ein Schauer lief über seinen Rücken. Die junge Frau mußte einmal wunderschön gewesen sein mit ihrem blonden Haar und den braunschwarzen Augen, die ihn urplötzlich ansahen. Schmerz und Verzweiflung las der Arzt darin – und Angst! Schwester Walli, die stets Praktische, meinte: »Los, hol einer einen Notarztwagen. Wo ist hier ein Telefon?«
»Keine Ahnung. Von uns hat niemand eins«, antwortete das junge Mädchen.
»Gibt’s heißes Wasser?«
»Nö. Warum?«
Walli seufzte auf. Fragend sah sie Dr. Reinhard an, der versuchte, die junge Frau, so gut es ging, zu untersuchen.
Sie stöhnte auf, als er sie bewegte, und mit Entsetzen sah der Arzt, daß ihre Arme voller Einstichstellen waren.
Entschlossen richtete er sich auf. »Sie muß in die Klinik. Schwester Walli, wir fahren sie selbst hin.« Er wandte sich an die jungen Leute, die ihm verstört und ängstlich zusahen. »Ich bin Arzt, aber ich kann hier gar nichts für Ihre Freundin tun. Wann soll das Kind kommen? Weiß das jemand?«
»In drei Tagen«, antwortete das junge Mädchen. »Aber schon heute morgen bekam Rita Wehen, da hat sie sich eben hingelegt.«
Walli verdrehte nur die Augen, und Dr. Reinhardt schüttelte den Kopf über so viel Unvernunft. Aber was konnte man von diesen jungen Menschen, die völlig die Orientierung im Leben verloren hatten, schon erwarten?
Entschlossen hob er die Hochschwangere auf. Walli half ihm nach Kräften, und die beiden jungen Männer sahen ihm lethargisch zu, als er mit der Kranken, die trotz ihres Zustands ein Fliegengewicht war, das Haus verließ.
Es war für den Arzt nicht allzu schwer, die Schwangere zu seinem Wagen zu tragen. Mit Schwester Wallis Hilfe bettete er sie auf den Rücksitz, dann fuhr er, so schnell es die Straßenverhältnisse erlaubten, zurück zur Kurfürsten-Klinik.
»Das war dann wohl nichts mit unserem Feierabend«, meinte die Oberschwester lakonisch, als sie vor der Ambulanz hielten. »Sie können doch heimgehen«, meinte Markus Reinhardt. »Der Notdienst wird sich um die junge Frau kümmern.«
»Aha.« Walli stemmte die Hände in die Seiten. »Gehen Sie auch heim?«
»Nein, ich…«
»Ich auch«, fiel sie ihm ins Wort. »Denken Sie, ich kann mich zu Hause in Ruhe auf die Couch setzen, wenn ich weiß, daß hier eine junge Frau um ihr Leben kämpft? Irgendwie fühle ich mich für sie mitverantwortlich.«
Markus wollte es sich nicht eingestehen, doch ihm ging es ganz ähnlich. Auch ihm wäre es unmöglich gewesen, die junge Frau einem der Kollegen zu überlassen.
Daß ein langer, anstrengender Tag hinter ihm lag, spürte er jetzt nicht mehr. All sein Interesse galt der jungen Frau, die mit jeder Sekunde, die verstrich, schwächer wurde.
*
Carola Senftleben, Dr. Winters liebenswerte Nachbarin, schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Sie ruinieren sich noch Ihre Gesundheit«, schimpfte sie. »Als Arzt sollten Sie doch besser als ich wissen, wie ungesund es ist, das Essen so hinunterzuschlingen.«
Dr. Adrian Winter lächelte sie um Entschuldigung bittend an. »Sie haben ja recht, Frau Senftleben. Aber… ich hab’ einfach verschlafen. Das hätte nicht passieren dürfen. Der Nachtdienst ist sowieso nicht allzu stark besetzt, und wenn ich jetzt noch zu spät komme…«
»Was nützt es, wenn Sie vor Schwäche zusammenklappen?« Sie zog ihm den Teller weg und stellte ein Dessertschälchen auf den Tisch. »Wenigstens noch ein paar Löffel Obstsalat«, bestimmte sie.
Adrian Winter schüttelte den Kopf. »Niemand ist auf so liebevolle Weise tyrannisch wie Sie«, meinte er – und schob gleich darauf genußvoll den ersten Bissen in den Mund.
Immer wieder dankte er dem Schicksal für diese Nachbarin. Carola Senftleben war mit ihren 66 Jahren noch sehr vital und fit. Als Schneidermeisterin hatte sie es zu Wohlstand gebracht, doch sie beschränkte sich auf ein, zwei große Reisen im Jahr und darauf, ihr schönes Heim zu genießen.
Besonders gefiel ihr an ihrer Wohnung, daß sie einen so attraktiven und liebenswerten Nachbarn hatte – Adrian Winter nämlich. Ihn hatte Carola Senftleben, die nie geheiratet hatte und keine Verwandten besaß, in ihr Herz geschlossen.
Es war ihr eine Freude, mit ihm zu reden, ihn hin und wieder zu bekochen – und ein wenig Anteil an seinem Leben haben zu dürfen.
Als er jetzt auf die Uhr schaute, seufzte sie leise auf. »Los, raus mit Ihnen. Ich weiß doch, daß Sie keine Ruhe mehr haben. Von dem neuen Kollegen erzählen Sie mir ein andermal mehr, ja?«
»Klar doch.« Adrian war schon an der Tür. »Danke nochmals für alles – es war köstlich wie immer. Gute Nacht.«
»Gute Nacht –. Und hoffentlich haben Sie nicht allzu großen Streß.«
Die Worte hörte der junge Arzt jedoch nicht mehr. Er war schon an seiner Wohnungstür. Ein Glück, daß er schon fertig war für den Nachtdienst. Er mußte nur noch seine Jacke nehmen und die Tasche. Vielleicht noch den neuen Bestseller… es könnte ja sein, daß es ganz ruhig war heute.
Aber das war, wie er aus Erfahrung wußte, eine ziemlich unsinnige Hoffnung. Berlin bei Nacht… das war Aktivität und pulsierendes Leben in jeder Minute, jeder Sekunde.
Als er eine Viertelstunde später in die Klinik kam, herrschte in der Ambulanz relative Ruhe, und