den Atem verschlagen, denn ich hatte mir nie vorstellen können, dass jemand mit einem Draht tief in der eigenen Brust herumzustochern imstande wäre. Ich war erschüttert. Den Draht nahm ich und versteckte ihn in meinem Strohsack. In der folgenden Nacht, es muss schon spät gewesen sein, wachte ich plötzlich auf, als Disics neben meinem Bett stand, mich an der Gurgel gepackt hatte und zu würgen begann. Dabei schrie er: „Du Deutscher, gib mir meinen Draht wieder!“ Ich wähnte mich in höchster Lebensgefahr. Glücklicherweise konnte ich in dem oberen Bett die Beine anziehen und ihn wegstoßen. Als ich wieder Luft bekam, schrie ich laut um Hilfe und sprang von meinem Bett. Auch er brüllte irgendetwas und versuchte hochzukommen, während bereits der Unteroffizier vom Dienst die Zellentür mit Getöse öffnete. Nachdem ich den Vorfall geschildert hatte, ergriffen zwei ebenfalls herbeigeeilte Unteroffiziere den Serben, der sich jetzt ganz ruhig verhielt, und führten ihn weg. Ich war gar nicht unglücklich, wieder allein in meiner Zelle zu sein. Disic sah ich erst fast zwei Jahr später in der Fabrik der Haftanstalt Gherla wieder.
Ein Verhör bei Leutnant Neda drehte sich um die Frage, wie oft ich an den in der Milleniumskirche von den Pfarrern Emmerich Vormittag und Dr. Josef Fodor organisierten Jugendgottesdiensten teilgenommen hatte. Ich verneinte jegliche Kenntnis oder Teilnahme an Versammlungen in der genannten Kirche, auch leugnete ich, die genannten Priester Fodor und Vormittag zu kennen. Dr. Fodor kannte ich tatsächlich nicht, weil weder meine Eltern noch ich in die Kirche in der Fabrikstadt zu gehen pflegten. Herrn Vormittag kannte ich noch von der Banatia-Schule her, dort unterrichteten er und die Herren Nischbach und Hauptmann Religion. Ich hatte keine Ahnung, dass zu diesem Zeitpunkt Pfarrer Hauptmann ebenso wie die anderen drei mit weiteren Priestern, Ordensfrauen und unserem Bischof verurteilt einsaßen. Neda wollte mir nicht abnehmen, dass ich von diesen Versammlungen nichts gewusst hätte. Er überraschte mich sogar mit der Mitteilung, dass mein Freund Emil K. behauptet habe, ich sei dabei gewesen. Ich leugnete nicht, K. zu kennen, er war sowohl in der Banatia als auch in der Gewerbeschule mein Kollege, Freunde waren wir jedoch nie gewesen, und nach der Gewerbeschule hatte ich ihn auch nicht mehr gesehen. Bei dieser Aussage blieb ich dann auch trotz der angedrohten Schläge. Später, nach meiner Haftentlassung, erfuhr ich erst, dass aus Emil K. ein strammer Parteigenosse geworden war, der als Chef aller Juwelierläden der Stadt beste Beziehungen zur Securitate unterhielt und dem – unter den damaligen Umständen eine Sensation – sogar gestattet war, Waffensammler zu sein.
Der Grund für die Fragen nach meinen Verbindungen zu den Priestern erschloss sich mir erst Tage später, als ich in eine größere Zelle mit drei Betten verlegt wurde, in welcher ich noch zwei Häftlinge vorfand, einen jungen Mann etwa in meinem Alter und einen älteren Herrn. Mit Herrn Dr. Josef Waltner, dem älteren Herrn, bahnte sich recht schnell ein intensives Gespräch an, zumal er den Laden meiner Familie in der Mercy-Gasse gut kannte. Unser Gespräch wurde am Anfang kurz unterbrochen, als der Unteroffizier in die Zelle stürmte und den jungen Mann schimpfend hinauszerrte. Ich bekam noch so viel mit, dass er dem jungen Mann vorwarf, verschwiegen zu haben, dass er mich nicht treffen dürfe. Dieser Blödsinn war mal wieder typisch. Schließlich konnte der Beschuldigte bestimmt nichts dafür, dass man mich in diese Zelle gebracht hatte. Abgesehen davon kannten wird uns überhaupt nicht. Über diesen Vorfall habe ich später mit Dr. Waltner noch herzlich gelacht. Von ihm erfuhr ich jedenfalls, dass der Bischof Augustin Pacha zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden war. Der Prozess hatte im November 1951 stattgefunden. Er, Dr. Waltner, war mit 18 Jahren Zwangsarbeit bedacht worden. Mich bestürzte die Höhe der Strafe, und als ich ihm meinen Fall geschildert hatte, antwortete er auf meine Frage nach der von mir zu erwartenden Haft, dass ich mit einer ähnlich hohen Strafe rechnen müsse, dass es aber auch noch mehr werden könnte. Jedoch keine Todesstrafe, denn ich sei jung und stark, also würde man mich zur Arbeit einsetzen. In den drei bis vier Tagen, die wir gemeinsam in der Zelle waren, sprachen wir viel miteinander. Er riet mir, niemandem Geheimnisse anzuvertrauen und nur das zu sagen, was ich schon beim Verhör zugegeben hatte. Dieser wertvolle Rat leuchtete mir ein und ich hielt mich daran.
Ein oder zwei Tage darauf wurde ich mit der üblichen Blechbrille auf den Augen in die ehemalige Waschküche des Hauses geführt, wo ein Kerl in gestreifter Sträflingskleidung auf mich wartete. An dem Haarschneider in seiner Hand erkannte ich, worum es ging. Meine Haare und mein Bart waren seit meiner Festnahme noch nicht geschnitten worden und zwischenzeitlich total verfilzt. Der Häftling mit seiner pockennarbigen Visage sah genauso aus wie ein typischer Schwerverbrecher im Kriminalfilm oder besser noch, wie dessen Karikatur. Er sprach natürlich kein Wort mit mir. Es war alles andere als ein Vergnügen, als er meine verfilzte Haarpracht schnitt und dabei vom dabeistehenden Feldwebel zur Eile angetrieben wurde. Auch meinen Bart kürzte er zuerst mit der Maschine, was noch relativ erträglich war, aber das nachfolgende „Rasieren“ mit einem stumpfen Messer war eine einzige Schinderei. Das alles geschah für den „Fototermin“, welcher gleich im Anschluss stattfand. In einer größeren Zelle gab es einen Stuhl und einen Tisch, auf dem unsere Waffen, Sprengstoffe, Munition und Brandsätze lagen. Der Fotograf – einer der offiziellen Sportfotografen, der auch mich bei zahlreichen Wettkämpfen geknipst hatte – machte ein überraschtes Gesicht, als er mich erkannte. Es wurden dann neben den üblichen Karteiaufnahmen von vorne und aus dem Profil noch weitere Bilder von mir mit meinen Waffen in der Hand oder neben dem Tisch mit dem Sprengstoff und der Munition stehend gemacht.
In den letzten Wochen des Jahres wurde ich kaum mehr zu Vernehmungen geführt. Auch der bullige Feldwebel, der mich früher öfter schikaniert und geschlagen hatte, verhielt sich auffallend anständig, trieb mich nicht mehr so oft an und schrie und fluchte auch nicht grundlos wie früher. Ich hatte meine Zeitrechnung mit viel Mühe aufrechterhalten. Mein Vorbild war diesbezüglich Edmond Dantès, der Graf von Monte Christo, der trotz seines langjährigen Aufenthaltes in der Festung Château d’If mithilfe in die Wand geritzter Kalender nie die Zeitrechnung verloren hatte.
Dann kam der erste Weihnachtstag, der bis zum Abend sehr ruhig verlief. Spät am Abend holte mich der Feldwebel, er hatte Nachtschicht, aus der Zelle, führte mich ohne Blechbrille in den Waschraum und forderte mich auf, den Dielenfußboden des ganzen Korridors sauber zu machen. Die Arbeit dauerte etwa zwei Stunden, und als ich fertig war, sagte er, ich könne auch meine Wäsche gründlich waschen, ich bräuchte mich nicht zu beeilen. Als ich meine Utensilien in den Waschraum brachte, fand ich zu meiner großen Freude auf dem dort stehenden Stuhl ein großes Stück Hefeteigkuchen, dass mir offensichtlich der Feldwebel hier als Weihnachtsgeschenk zurückgelassen hatte. Ich griff sofort zu, verschlang auf der Stelle ein Stück des Kuchens und nahm den Rest, in meinen Rock eingewickelt, mit in die Zelle.
Gleich zu Neujahr, welches – der Musik und dem Krach nach zu urteilen – auch von den Securisten ausgiebig gefeiert wurde, kam ich für wenige Tage in eine Einzelzelle, die direkt an der Loga-Straße lag. Durch ein schachtartiges Fenster erreichten mich sogar die Geräusche der anliegenden Straße, und ich konnte morgens die Schritte der vorbeieilenden Menschen vernehmen. Vom gegenüberliegenden Loga-Lyzeum hörte ich das Pausenläuten und das Geschrei der Kinder wie einen Klang aus einer fernen Welt.
Miodrag
Etwa am 5. oder 6. Januar wurde ich innerhalb desselben Gebäudetraktes wieder verlegt. Die neue Zelle war etwa zwei Meter lang und hatte zwei übereinanderliegende Betten, neben welchen es einen etwa 80 Zentimeter breiten Freiraum gab, den man nutzen konnte, um sich die Füße zu vertreten. Ein festes Eisengitter und ein Drahtnetz bedeckten das Fenster. Diese Zelle – das war eine ganz neue Erfahrung – wurde sogar ein wenig beheizt. Mein Zellengenosse war 23 Jahre alt, brünett, schlank, etwas kleiner als ich und stellte sich als Miodrag Vucsetici, ein Serbe aus der jugoslawischen Stadt Niš, vor. Er war ehemaliger Berufssoldat, hatte davor seit seinem vierzehnten Lebensjahr bei den Partisanen gekämpft und war während seiner Dienstzeit beim Militär vom Nachrichtendienst als Agent rekrutiert worden. Als guter Schwimmer wurde er zu Kurierdiensten über die Donau zwischen Jugoslawien und Rumänien eingesetzt, wozu er auch die rumänische Sprache in einem Intensivkurs erlernt hatte. Im Jahre 1950 hatte er mehrmals die Donau überquert und dabei den in Rumänien operierenden jugoslawischen Agenten Befehle übermittelt oder deren Berichte nach Jugoslawien zurückbefördert. Bereits am Tag unserer Zusammenlegung ließ mich „Goldzahn“ rufen und teilte mir mit, dass mein neuer Zellengenosse selbstmordgefährdet