gerettet worden sei.
Ich verstand mich mit Miodrag ganz gut, zumal es in unserer Lage ohnehin töricht gewesen wäre, in Feindschaft zu leben. Auf den Selbstmordversuch habe ich ihn nie angesprochen, konnte jedoch beim Duschen seine Operationsnarbe deutlich erkennen. Uns war klar, dass uns noch Schweres bevorstand und auch unsere Hinrichtung nicht ausgeschlossen war, wovon er auch gelegentlich sprach. In der neuen Zelle bekam ich – obwohl Nichtraucher – täglich drei Zigaretten Marke Regale-RMS und, was mich mehr freute, das viel bessere Essen, nämlich die Schonkost, die Miodrag wegen seiner Magenoperation zugedacht war und in deren Genuss ich nun auch kam. Was mich aber am allermeisten freute, war die nunmehr von vormals täglich 250 auf 400 Gramm erhöhte Brotration. „Goldzahn“ meinte einmal, ich hätte diese Vergünstigung zwar nicht verdient, denn ich sei nach wie vor „unaufrichtig“, aber er hätte sich trotzdem beim Kommandanten zu meinen Gunsten ausgesprochen und ich müsse daher weiterhin wachsam bleiben und einen neuen Suizidversuch Miodrags verhindern. Dieser freilich machte keineswegs den Eindruck eines Lebensmüden, sondern sprach im Gegenteil oft von seiner Furcht, zum Tode verurteilt zu werden. Ich versuchte, ihm diese Angst mit dem Argument auszureden, dass die seit 1948 bestehende Spannung zwischen den beiden Ländern nicht mehr lange andauern dürfte und es nach einer Phase der Entspannung sicher zu einem Agentenaustausch kommen würde. Allerdings war ich bei dieser optimistischen Einschätzung nicht ganz ehrlich, denn eigentlich vermutete ich – wie viele andere Zeitgenossen auch –, dass ein großer Ost-West-Konflikt in naher Zukunft unvermeidlich wäre, eine Überzeugung die uns ja auch bei der Gründung unserer Organisation geleitet hatte. Miodrag meinte dazu – und hatte recht –, dass der Streit eigentlich nicht zwischen Rumänien und Jugoslawien, sondern zwischen Moskau und Belgrad bestand und dass die Hauptakteure Stalin und Tito seien.
Im Zusammenhang mit der damals regen Agententätigkeit zwischen den beiden Staaten stellte sich später heraus, dass zum Beispiel auch die in Temeschburg tätigen Securitate-Offiziere Sava Bugarski und Vidosa Nedici (Vida), beide Serben aus dem rumänischen Banat und zu unserer Zeit berüchtigte Verhöroffiziere, Agenten des jugoslawischen Geheimdienstes waren. Zumindest Bugarski landete 1954 nach seiner Entlarvung im Gefängnis von Piteşti, wo damals neben vielen Hochverrätern und Spionen verschiedener Nationalitäten auch etwa 50 bis 60 Serben einsaßen. Unser Kamerad Herbert Winkler durchlebte als deutscher Staatsbürger ebenfalls eine mehrmonatige schwere Zeit unter lauter Serben in Piteşti und war dabei den täglichen Schikanen und Morddrohungen seiner Mitgefangenen ausgesetzt. Seine Lage besserte sich erst nach dem Genfer Treffen im Sommer 1955 zwischen Eisenhower (USA), Bulganin (UdSSR), Eden (Großbritannien) und Faure (Frankreich), infolge dessen sich unter anderem die Lage zwischen Rumänien und Jugoslawien entspannte und alle Tito-Spione aus der Haft entlassen wurden. Übrigens erwähnt Ion Ioanid in seinem Buch „Închisoarea noastră cea de toate zilele“ („Unser tägliches Gefängnis“) viele der 1954 in Piteşti inhaftierten Serben namentlich, jedoch nicht Miodrag Vucsetici. Da auch Herbert sich nicht erinnert, diesen Namen je gehört zu haben, könnte es tatsächlich sein, dass mein Zellengenosse von den rumänischen Behörden später liquidiert wurde.
Es war schon in der zweiten Februarhälfte, als ich eines Vormittags wieder zum Verhör hinaufgeführt wurde. Schon etwa sechs Wochen davor hatte man mir mitgeteilt, dass unser Untersuchungsverfahren abgeschlossen sei und man uns nunmehr dem Gericht überstellen werde. Gleich nach meiner Ankunft trat ein Oberleutnant in den Raum, der zu meiner Überraschung sogar seinen Namen nannte, den ich allerdings nicht klar verstehen konnte. Er meinte, er habe gerade etwas Zeit und wolle mich daher kennenlernen, bevor ich mit meinen Kameraden (er sagte wirklich „Camarazi“) vor Gericht gestellt und verurteilt würde. Dann erkundigte er sich nach meinen Eltern, nach unseren Vermögensverhältnissen, der Schule und dem Sport. Was den Sport anging, machte er mir heftige Vorwürfe mit der Begründung, es gäbe im sozialistischen Rumänien für einen so hervorragenden Sportler wie mich doch beste Bedingungen und Chancen, um die ich mich nun leichtfertig gebracht hätte. Ob ich es nicht bereue, meine zehn Kameraden verführt und ins Unglück gestürzt zu haben, wollte er wissen, worauf ich antwortete, dass es sich meiner Meinung nach nicht um eine Verführung, sondern um den freiwilligen Zusammenschluss Gleichgesinnter gehandelt habe. Er gab zu, dass dies möglich sei, dass aber dennoch ich und die „faschistische“ Erziehung in der Lehranstalt Banatia die Hauptschuld trügen. In den uns bevorstehenden langen Gefängnisjahren hätten wir noch genügend Gelegenheit, festzustellen, dass wir einer falschen Ideologie gedient hatten und dass das einzig Richtige der Kommunismus unter der Führung des großen Stalin sei. Der Kapitalismus mit den US-Amerikanern an seiner Spitze müsse zwar noch ausgeschaltet werden, dozierte er, doch bedürfe es hierzu keines Krieges, denn die Volksmassen in den USA und in Westeuropa würden den Wandel zum Sozialismus selbst erkämpfen. Am Schluss seiner Ausführungen, die ich mir schweigend anhören musste, erkundigte er sich noch nach Miodrag und ermahnte mich, ihm Mut zuzusprechen und auf jeden Fall zu verhindern, dass er einen Fehler – also Selbstmord – begehe. An seinem Verbrechen, bemerkte er, trüge nicht das jugoslawische Volk Schuld, sondern vielmehr die von den USA gestützte Clique Tito/Ranković.
Nach diesem langen Gespräch – ich schätze, es hatte zwei Stunden gedauert – wurde ich in meine Zelle zurückgeführt. Diese sonderbare Begegnung und das Verhör, das eigentlich keines war, beschäftigten mich noch eine ganze Weile, und ich erzählte auch Miodrag davon. Zwei Tage später wurde ich zu einem weiteren kurzen Verhör diesmal zu „Goldzahn“ geführt, wobei sich mir Sinn und Ziel der Fragen erneut nicht recht erschlossen; als ich jedoch in meine Zelle zurückkam, war Miodrag verschwunden und ich sah ihn nie wieder.
Gerichtstermin
Am 6. März etwa um 8 Uhr wurde ich vom Diensthabenden aus meiner Zelle geholt und in das Bad geführt, wo schon der mir bekannte „Frisör“ wartete. Ich wurde ganz schnell rasiert, was sich erwartungsgemäß erneut als wenig vergnüglich herausstellte, von mir jedoch als sicherer Hinweis auf ein bevorstehendes Ereignis gewertet wurde. Mit der Blechbrille auf der Nase ging es danach flugs durch einen Tunnel und die Treppen in den Hof. Dort angekommen legte man mir Handschellen an, und zu meiner Überraschung sagte der Feldwebel: „Komm, wir gehen zu Fuß.“ Das freute mich, und ich wagte die Frage: „Wohin?“ Er antwortete mir sogar und sagte: „Zum Gericht.“ Dann führte er mich auf dem kürzesten Weg an der Loga-Schule vorbei zum Gerichtsgebäude in der Popa-Sapca-Straße. Als wir an der Timişana-Bank vorbeikamen, musste ich an meinen Adoptivvater Herrn Boncea denken, der vermutlich nichts ahnend im Kassenraum der Bank arbeitete. Dieser Morgen war sehr kalt, ich schätzte, etwa minus 10 Grad. Schnee lag zwar keiner, aber es war alles bereift und nebelig. Ich fror in dem Anzug, den ich von daheim bekommen hatte und der für diese Witterung unzureichend war. Weil meine Schuhe keine Schnürsenkel hatten und ich zudem in Ermangelung eines Gürtels mit den gefesselten Händen meine Hose festhalten musste, war das Gehen recht beschwerlich. Aus diesem Grund verwarf ich auch die Gedanken an einen Fluchtversuch, die mir natürlich gleich gekommen waren, schnell wieder.
Beim Gerichtsgebäude angekommen wurde ich in ein Zimmer geführt, bekam die Handschellen abgenommen und ein Wachtmeister wurde angewiesen, mich zu bewachen. Während ich noch überlegte, was nun passieren würde, ging die Tür auf, und herein kamen mit Fredi an der Spitze alle meine Kameraden, unter ihnen auch Andreas gestützt von Dietmar und Egon. Ich empfand eine unbeschreibliche Freude, als wir uns begrüßten, denn ich hatte keine Ahnung gehabt, dass wir uns hier begegnen würden. Ich musterte sie aufmerksam und stellte fest, dass alle mehr oder weniger mitgenommen aussahen. Sie waren abgemagert, hatten zerknitterte Kleidung, ungepflegte Haare und Bärte. Am übelsten sah Emmerich aus, dessen Gesicht schrecklich aufgedunsen war. Er sagte mir, dass er Probleme mit den Nieren und der Blase habe, dass er aber medikamentös behandelt würde. Die Freundlichkeit, mit der ich von allen begrüßt wurde, freute mich sehr, hatte ich doch oft genug von meinen verlogenen Vernehmern hören müssen, dass meine Kameraden mich als allein Schuldigen bezeichnet und sich von mir losgesagt hätten. Jetzt bestätigte sich, welch fabelhafte Kameraden sie waren. Ich bedauerte, dass sie sich mit mir zusammen auf einem Leidensweg befanden, dessen Dauer und Härte nicht abzusehen war, aber ihre Haltung gab mir Kraft und den Willen, die Zukunft zu meisten, selbst wenn ich mein Leben dabei verlieren sollte. Die größte Sorge bereitete mir Andreas, der ohne gestützt zu werden keinen