Gelegenheit, mir das Gebäude von innen anzusehen. Als wir das Haus erreichten und den ersten Blick ins Treppenhaus werfen konnten, war ich schon geschockt. Die Villa, bis vor zwei Jahren eine der schönsten der Stadt, mit viel Geschmack erbaut und eingerichtet, war nicht mehr wiederzuerkennen. Die Eingangstür hing in den Angeln, in der Eingangshalle mit Treppenaufgang zum Obergeschoss konnte man vor Trümmern und Unrat den Mosaikfußboden nicht mehr sehen. Alle Wände und die mit Stuck verzierten Decken waren von Einschusslöchern übersät. Bis in Kopfhöhe waren überall Blutspritzer zu sehen, und dazu prangten von den Wänden verschiedene Losungen der „Sowjet-Helden“. Die Marmortreppen waren zwar an ihren Trittflächen als solche erkennbar, da von unzähligen Stiefeln blankgescheuert, dafür waren die Stufen an ihren senkrechten Flächen dunkel besudelt. Herr Rieger erklärte uns, dass es sich um das Blut russischer Soldaten handelte, und erzählte uns seine Erlebnisse aus der Zeit, als er mit seiner Familie noch im Keller der Villa wohnte. Je weiter die Front nach Westen rückte und Temeschburg zur Etappe wurde, umso häufiger gab es Sauforgien, die regelmäßig mit wüsten Schlägereien und teilweise Schießereien der Russen untereinander endeten. Übrigens wurden in der gleichen Zeit dort und ebenso in den beiden benachbarten Villen gefangene Zivilisten, die der Agententätigkeit verdächtigt wurden, festgehalten, verhört und gefoltert. Mit der Zeit wurden die nächtlichen Sauforgien immer schlimmer. Es kam zu Schießereien im Haus, die sich anhörten, als wären Straßenkämpfe ausgebrochen. Sie endeten oft mit Verletzten und sogar toten „Tscholowecki“. Herr Rieger musste einmal mit ansehen, wie man zwei offensichtlich tote Russen an ihren Füßen die Treppe herunterschleifte. Bei jeder Stufe schlugen die Köpfe der Toten dumpf auf den Marmor. Ihr Blut, das dabei die Treppen besudelte, konnten auch wir noch sehen. Der geflügelte Satz aus der Zarenzeit „Nitschewo, jest mnogo Tscholowecki!“ („Macht nichts, es gibt genug Menschen!“) hatte in Russland offensichtlich systemübergreifend Gültigkeit.
Auch die Räume in der oberen Etage des Hauses waren in einem unbeschreiblichen Zustand. Das Parkett war überall herausgerissen und in den Öfen verheizt worden. Anfangs in den Kachelöfen, die im Haus in allen Räumen gestanden hatten, und später, als dann die Öfen mit der Zeit zertrümmert waren, in zum Teil aus leeren Benzinfässern gefertigten sogenannten Trommelöfen. Vom ehemaligen Mobiliar des Hauses standen noch einige Stücke, allerdings fast alle schwer beschädigt. Zum Beispiel erinnere ich mich noch an einen sehr großen mit Intarsien verzierten Schrank, welcher nur noch einen Türflügel hatte. Die Reste des zweiten Flügels lagen zum Teil verbrannt neben einer offenen Feuerstelle mitten im ehemaligen Speisezimmer. Tapetenreste hingen in Fetzen von den Wänden, Dekor-Elemente und Teile von Stuckverzierungen an den Zimmerdecken hatten als Zielscheiben gedient, wie an den gruppierten Einschusslöchern zu erkennen war. Obwohl keines der Fenster unbeschädigt war und viele Scheiben fehlten, stank es im ganzen Haus nach den menschlichen Exkrementen, die man an verschiedenen Stellen im Haus sehen konnte. Aber der absolute Tiefpunkt, das Badezimmer, stand uns noch bevor. Nachdem in diesem die Klosettschale zu Bruch gegangen war, hatte man offensichtlich die Badewanne als Ersatz benutzt, bis sie voll war. Und zwar hatte man zwei Bretter über die Wanne gelegt und als Sitz einen Stuhl, dessen Polster herausgeschnitten war, darübergestellt. Es war eine überzeugende Leistung. Übrigens ließ Herr Rieger das Haus in Ordnung bringen, was fast ein Jahr dauerte und eine Menge Geld kostete, um anschließend gleich wieder, diesmal von den rumänischen Behörden, enteignet zu werden. Das Haus diente ab dann für kurze Zeit als Heim der UTC (Kommunistischer Jugendverband) und wurde ab 1948 einem Gebäudekomplex eingegliedert, der das Hauptquartier der berüchtigten Securitate, der neuen Geheimpolizei, beherbergen sollte.
Wegen der völlig chaotischen Zustände in der Stadt waren alle in unserem Hause froh, als bekannt wurde, dass ein sowjetischer Oberst in der Wohnung meiner Großmutter einquartiert werde. Einen solchen Mann im Hause zu haben konnte in Zeiten, in denen man nicht einmal in den eigenen vier Wänden sicher war, eine „Lebensversicherung“ darstellen. Der Genosse Oberst Nikolaus Ribarsky sprach fließend Deutsch, war etwa 50 Jahre alt, von Beruf Ingenieur und damals mit dem Nachschub an Lebensmitteln für die Rote Armee beauftragt. Mit ihm waren wir im Haus im besten Sinne des Wortes gut versorgt. Bereits am Tor wies ein Zettel darauf hin, dass im Haus ein sowjetischer Offizier wohnt. Im Gespräch mit meinem Vater erzählte er, dass er schon zur Zeit des Ersten Weltkrieges Leutnant in der Garde des Zaren war. Er habe nach dem Ausbruch der Revolution in den Reihen der Gegenrevolutionäre gekämpft. Nach dem Zusammenbruch der Gegenrevolution sei er emigriert und seither in Rumänien gewesen, wo er studiert und gearbeitet habe. Nach der Ankunft der Roten Armee habe man ihm angeboten, in die sowjetischen Streitkräfte einzutreten, und zwar als Offizier. Er war einverstanden, bekam den Grad eines Obersten (!) und wurde mit Nachschubaufgaben betraut.
Meinem Vater schien die Geschichte allerdings nicht sehr glaubwürdig. Es war seines Erachtens höchst unwahrscheinlich, dass die Sowjets einem Emigranten Vertrauen schenkten, ihm die „Sünden“ seiner konterrevolutionären Vergangenheit verziehen und ihn innerhalb kürzester Frist auch noch die Karriereleiter hochsteigen ließen. Täglich konnte man hören, dass Leute mit vergleichbarer Biografie, oft ganze Familien, die zum Beispiel aus Bessarabien stammten, von den Sowjets ausgehoben und verschleppt wurden. Diese Leute wurden nur deswegen deportiert, weil sie im Verständnis der Sowjets als Deserteure und Verräter galten, auch wenn man ihnen nichts anderes vorwerfen konnte, als dass sie nicht unter sowjetischer Herrschaft hatten leben wollen.
Daher konnte und wollte mein Vater die Erklärungen des Obersten nicht glauben und meinte sogar, dass Ribarsky möglicherweise in Rumänien für die Sowjets spioniert habe. Das war aber vorerst alles zweitrangig. Entscheidend war, dass wir uns, solange er bei uns wohnte, in Sicherheit wussten. Tatsächlich wurden wir in den Monaten seiner Anwesenheit nicht ein einziges Mal von randalierenden Soldaten behelligt. Dafür mussten wir ihm dankbar sein. Er verließ uns etwa im Februar 1945. Beim Abschied meinte er, jetzt gehe er bald nach Österreich und nach dem Sieg über Deutschland nach Hause, also nach Russland.
Erst zehn Jahre später, als ich als Häftling in den Bleiminen von Cavnic war, sollte ich ganz überraschend wieder von Ribarsky hören. Und zwar bekam ich damals als Gehilfen einen jungen Sachsen, Michael Schobel, zugeteilt, der aus Mediasch in Siebenbürgen stammte. Als ich ihm über die Ankunft der Russen im Herbst 1944 erzählte und dabei auch Oberst Ribarsky erwähnte, sagte Misch sofort, dass auch er diesen kenne. Zu meiner Überraschung erzählte er mir, dass Ribarsky im Sommer 1944 einige Monate bei ihnen im Haus gewohnt habe. Er leitete als angestellter Ingenieur einer Baufirma den Bau einer Straße und mehrerer Brücken in der Umgebung von Mediasch. Auch Mischs Vater gegenüber erzählte er, dass er vor den Bolschewiken aus Russland geflohen sei. Bei seiner Firma galt er als Rumäne und war offensichtlich als Ingenieur sehr gut angesehen. Nach dem Umsturz vom 23. August verschwand er aber ganz plötzlich. Dabei ließ er einen Teil seines Gepäcks bei der Familie Schobel. Erst etwa einen Monat später tauchte er wieder auf, trug zur Verblüffung der Familie die Uniform eines russischen Obersten und war in Begleitung weiterer Offiziere. Die Gruppe fuhr in einem Jeep bei ihnen vor. Er begrüßte die Familie sehr herzlich und bedankte sich für das Aufbewahren seiner Habe, überreichte einige Lebensmittel als Geschenk und fuhr ab.
Mischs Vater meinte nachher, er sei überzeugt, dass Ribarsky wahrscheinlich über Jahre hinweg Agent des sowjetischen Spionagedienstes in Rumänien gewesen sei. Dabei dürfte sich seine leitende Stellung beim Straßen- und Brückenbau hervorragend zur Beschaffung von Informationen über die Verkehrswege geeignet haben. Der hohe Dienstgrad in der Roten Armee deutete ebenfalls darauf hin, dass er schon lange im Nachrichtendienst arbeitete. Möglicherweise wurde er schon Anfang der Zwanzigerjahre mit Aufträgen nach Rumänien geschickt, wo er sich getarnt als Emigrant ohne Schwierigkeiten hocharbeiten konnte. Sicher dürfte aber gewesen sein, dass in den Archiven des NKWD ein dickes Aktenbündel unter seinem Namen stand. Schließlich hatte er sich lange Jahre außerhalb der Sowjetunion aufgehalten und konnte so von der kapitalistischen Welt „kontaminiert“ worden sein.
Trotz der unsicheren und aussichtslos scheinenden Lage fanden sich viele aus dem Umfeld der Volksgruppe, die nicht gewillt waren, widerstandslos aufzugeben. So erfuhren wir zum Beispiel eines Morgens, dass in der Nacht zuvor einer größeren Gruppe gefangener deutscher Soldaten, fast alles Leichtverwundete, die Flucht gelungen war. Die Männer waren in der Fabrikstadt in einer Schule festgehalten worden. Ermöglicht wurde dieser Ausbruch durch den beherzten Einsatz einer organisierten