Friedrich Resch

13 Jahre


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erledigt worden. Wir beabsichtigten zwar, in Kürze einen neuen Versuch zu starten, aber aus verschiedenen Gründen ergab sich keine Gelegenheit mehr. Und dann kam der Tag, als alle Radios verkündeten, dass Deutschland kapituliert hatte, dass der Krieg in Europa zu Ende war. Wir waren maßlos enttäuscht.

      Schon wenige Tage darauf zogen größere russische Truppenteile durch unsere Stadt nach Osten. Endlose Kolonnen von Pferdefuhrwerken und LKW durchquerten Temeschburg. Vielleicht waren sie schon auf dem Weg nach Ostasien, um jetzt den Japanern den Todesstoß zu versetzen. Dazwischen sah man immer wieder Wagen, die voll beladen mit nichtmilitärischer Kriegsbeute waren.

      Mit dem Ende des Krieges entspannte sich die Lage für uns nicht. Die Gefahr, noch im Nachhinein verschleppt zu werden, war zwar gebannt und es erschienen viele der Deutschen, die bis jetzt untergetaucht waren, wieder, so auch mein Vater. Es kursierten jedoch dauernd irgendwelche Gräuelnachrichten, unter anderem jene, man wolle deutsche Kinder in ein zentrales Lager bringen. Die offizielle Begründung war, dass nach der Deportation im Januar des Jahres 1945 viele Kinder ohne Eltern geblieben seien, und um diese Kinder wolle sich jetzt plötzlich der rumänische Staat kümmern. Nun, für uns sah das eher so aus, als hätte man sich die Entnationalisierung, genauer gesagt die Romanisierung der deutschen Kinder zum Ziel gesetzt.

      Um hinsichtlich dieser neu sich abzeichnenden Gefahr Vorkehrung zu treffen, beschlossen meine Eltern, zu einem Trick zu greifen. Und zwar sollte ich von dem befreundeten rumänischen Ehepaar Boncea formell adoptiert werden. Die Bonceas, die kinderlos waren, hatten von sich aus meinen Eltern ihre Hilfe in dieser Sache angeboten. Die Formalitäten waren schnell erledigt, und fortan hieß ich Boncea-Resch. Ansonsten änderte sich für mich nichts, ich wohnte auch weiterhin in meinem Elternhaus. Ob diese Adoption allerdings im Ernstfall, also wenn der neue rumänische Staat wirklich massenhaft hätte deutsche Kinder romanisieren wollen, genutzt hätte, muss bezweifelt werden. Wie man heute weiß, waren entsprechende Maßnahmen tatsächlich erwogen worden, und es war auch eine entscheidende Verringerung der deutschen Schulen im Lande angedacht. Glücklicherweise wurden diese Pläne jedoch nicht umgesetzt.

      Was das Ehepaar Boncea angeht, erinnere ich mich noch an eine Episode, die bezeichnend ist für die Zustände in Rumänien während des Krieges und in den Jahren danach. Rumänien lag durch seine geostrategische Lage und natürlich wegen seines Erdöls bereits vor dem Krieg im Schnittpunkt der Interessen der verschiedenen Machtblöcke. Sowohl die Länder der Achse als auch die Westmächte und natürlich auch die Sowjets verfolgten ihre eigenen Ziele, und daher galt das Land als ein Tummelplatz für Agenten und Spione. Frau Boncea leitete die Nachrichtenagentur RADOR, die alle Zeitungen der Stadt mit Neuigkeiten aus dem Land und der Welt versorgte. Die Nachrichten wurden hauptsächlich von Radiosendern übernommen, mitgeschrieben und zu einer Kontrollstelle der Polizei gebracht, um dort gegebenenfalls zensiert zu werden. Mitarbeiter von Frau Boncea war ein Herr Leipnik, der schon seit 1942 illegal von ihr beschäftigt wurde. Wäre er bei dieser Tätigkeit entdeckt worden, wäre er und sicher auch unsere Bekannte im Gefängnis gelandet. Leipnik hatte in den Dreißigerjahren in England studiert, sprach mehrere Sprachen und konnte so an dem hochwertigen Kurzwellenempfänger Marke „Lorenz“, den er hier im Büro zur Verfügung hatte, englische, amerikanische oder andere ausländische Sender empfangen. Er stenografierte alles mit und „bastelte“ aus diesen Informationen dann die Nachrichten für die Presse. Ob diese Berichte im Sinne der damaligen Regierung in Rumänien, geschweige denn im Sinne des mit Rumänien verbündeten Deutschen Reiches waren, darüber kann nur spekuliert werden. Mein Vater vermutete, dass Leipnik schon vor dem Umsturz vom August 1944 im Dienste eines ausländischen Geheimdienstes stand.

      Zwei Jahrzehnte später sollte ich dann erfahren, dass Leipnik in den Fünfzigerjahren, also schon in der kommunistischen Zeit, wegen Spionage für Großbritannien zu einer hohen Haftstrafe verurteilt worden war. Er soll unter anderem in den Gefängnissen und Lagern von Piteşti, Salcia und Stoeneşti gewesen sein, bevor er im Rahmen der Generalamnestie für alle politischen Häftlinge 1964 freikam. Bald darauf wanderte er nach Israel aus.

      Ende Mai erschien ein russischer Hauptmann mit seiner Frau und einem Wickelkind im Hause meiner Eltern. Man hatte ihm von der Kommandantur das Zimmer, in dem auch der Oberst Ribarski gewohnt hatte, zugeteilt. Er war Militärstaatsanwalt bei der SMERSch („Tod den Spionen!“), einer militärischen Variante des NKWD, deren Sitz seit Ankunft der Sowjettruppen im ehemaligen deutschen Konsulat auf der Loga-Straße war. Einmal sah ich in der Wohnung der russischen Familie einen ganzen Stapel Wehrmachtskarten, die von ihnen als Packpapier verwendet wurden. Ich bat die Frau um einige dieser Landkarten, und sie ließ mich auswählen. Die interessantesten waren eine Infanteriekarte Maßstab 1:100.000 mit Temeschburg in der Mitte und eine Generalstabskarte mit dem Maßstab 1:2.000.000. Diese zeigte mehr als die Hälfte Rumäniens, Teile der Slowakei, Ungarns und Jugoslawiens. Auf dieser Karte war der Verlauf der Front um Anfang Oktober 1944 von Hand eingezeichnet. Diese beiden Karten besaß ich bis 1951, als sie mir auf der Flucht abhandenkamen.

      Im gleichen Jahr begann ich mit dem Besuch der Gewerbeschule, Abteilung Metallbearbeitung, die ich nach zwei Jahren mit der mittleren Reifeprüfung beenden sollte. In jener Zeit war der Zulauf von deutschen Schülern an der Gewerbeschule beachtlich, insbesondere was die Klassen der Oberstufe betraf. Auch jetzt, nach über einem Jahr seit dem Ende der Kampfhandlungen in unserer Gegend, waren nach wie vor Unmengen an Waffen im Umlauf, und fast jeder Junge in meinem Alter besaß welche. Größere Schüler zu sehen, die in den Pausen oder nach der Schule mit Pistolen, Revolvern und Munition hantierten, war nichts Besonderes. In unserer Schule blühte ein regelrechter Schwarzmarkt, auf welchem munter Handfeuerwaffen, Munition und selbst Sprengstoffe gehandelt wurden. So ergab es sich zum Beispiel, dass ich einem anderen deutschen Jungen mein Luftgewehr im Tausch für eine Pistole Frommer-Baby im Kaliber 6,35 samt zehn Schuss Munition gab. Bald darauf bekam ich ein weiteres günstiges Angebot, und zwar einen Revolver Marke Harrington, Kaliber 7,62, im Tausch gegen Schießpulver. Ich griff zu. Später sollte dann noch eine „Gulden-Zwanziger“, eine einläufige Taschenpistole, dazukommen. Die Bezeichnung rührte daher, dass diese Waffen von Typ Derringer früher, in der K.-u.-k.-Zeit, auf den Jahrmärkten in Temeschburg tatsächlich noch für einen Gulden und zwanzig Kreuzer zu haben waren (ungarisch: „Forint-huszas“). Neben diesen Neuanschaffungen gab es in meinem „Arsenal“ noch ein Flaubert-Kleinkalibergewehr, eine einschüssige Waffe, die mein Vater seit seiner Jugendzeit besaß. Es hatte einen glatten Lauf, und man konnte mit ihm auch Schrotpatronen („Vogeldunst“) verschießen.

      Obwohl die meisten russischen Soldaten die Stadt zwischenzeitlich verlassen hatten und damit eine gewisse Ruhe eingekehrt war, gab es doch immer wieder Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung. So hatte meine Mutter eine dramatische Begegnung mit einem solchen „Helden“. Es war an einem Nachmittag, ich war mit Stefan zum Schwimmen gegangen und mein Vater war ebenfalls abwesend. Meine Mutter, allein in der Wohnung, saß in meinem Zimmer und las ein Buch. Dabei hatte sie versäumt, nachdem ich fortgegangen war, die Wohnungstür abzuschließen. Auf einmal hörte sie, wie jemand die Wohnungstür öffnete und ohne etwas zu sagen die Wohnung betrat. Sie meinte erst noch, dass ich zurückgekehrt wäre, wurde im nächsten Augenblick jedoch eines Besseren belehrt, als nämlich in der Zimmertür ein Russe mit einem Paket unter seinem Arm erschien. Er grüßte mit einem breiten Grinsen, schaute sich um, und als er erkannte, dass anscheinend keine weitere Person zugegen war, warf er sein Paket auf den Tisch und deutete meiner Mutter an, sich auszuziehen. Meine Mutter schrie ihn an, „Njet“ und „Paschli“, also „Nein, geh weg“, doch der Kerl stürzte sich auf sie und versuchte, ihr die Kleider herunterzureißen. Meine Mutter begann, laut um Hilfe zu rufen, und wehrte seinen Angriff mit Tritten und Kratzen ab, so gut sie konnte. Zum Glück war Herr Curta, der Schneidermeister, mit einem seiner Gesellen im Haus. Seit er einmal von Russen in seiner Werkstatt arg belästigt worden war, hielt er den Laden geschlossen und arbeitete daheim. Als er die Hilferufe meiner Mutter hörte, eilte er zusammen mit seinem Gesellen zu Hilfe. Der Russe erblickte sie durch unser Hoffenster, ließ von meiner Mutter ab und wandte sich zur Flucht. Es gelang ihm eben noch, den Treppenaufgang zu erreichen, als Herr Curta bewaffnet mit seiner großen Schneiderschere in der Hand ihn einholte. Ohne zu zögern knallte er dem flüchtenden Russen eins mit der Schere auf den Kopf, und obwohl dieser eine Mütze aufhatte, muss er von der scharfen Kante der Schere erheblich verletzt worden sein, denn nachher sah man Blutspritzer an der Wand.