Wissen und den Stand unserer psychotherapeutischen Erfahrungen in einem Leitfaden für das Studium und die spätere Weiterbildung zusammenzutragen.
Zum Konzept dieses Buches
Der Darstellung liegt ein psychoanalytisch orientierter Ansatz zugrunde, der die Beziehungserfahrungen des Menschen in das Zentrum der Betrachtung rückt und mit trieb-, ich- und selbstpsychologischen Aspekten verknüpft. Er kann als weithin repräsentativ für das heutige psychoanalytische Denken gelten. Innerhalb dieses Ansatzes wird ein entwicklungsdynamisches Strukturmodell zugrunde gelegt. Daneben werden reaktive Störungen und chronische posttraumatische Störungen als besondere Störungsformen betrachtet.
Neben diesem psychoanalytischen Ansatz werden bei der Darstellung allgemeine psychotherapeutische und psychosomatische Basisinformationen vermittelt. Zusätzlich werden grundsätzliche verhaltenstherapeutische Aspekte erörtert.4
Zur Lektüre dieses Buches
Dieses Buch gliedert sich in die Teile Grundlagen, Diagnostik, Krankheitsbilder und Behandlung. Als Basis für das Verständnis ist das Kapitel 3 über die Neurosenentstehung gedacht. Weil immer wieder auf die Grundformen der psychogenen Pathologie Bezug genommen wird, empfiehlt es sich, vor dem Studium spezieller Fragen auf jeden Fall auch das Kapitel 4 durchzuarbeiten. Im Übrigen sind die einzelnen Kapitel so gestaltet, dass sie unabhängig voneinander gelesen werden können.
Die Literaturverweise in den Fußnoten enthalten einerseits Grundsatzarbeiten zu zentralen Konzepten; hier kann die Auswahl angesichts der Fülle der Literatur nur willkürlich sein. Wo verfügbar, wurden deutschsprachige und leicht erreichbare Arbeiten angegeben. Andererseits werden einige zentrale Begriffe durch Hinweise auf die Erstbeschreiber oder wichtige Neuformulierungen belegt. Bei Begriffen und Konzepten, die heute zum »allgemeinen Wissensstand« unseres Fachs gehören, wurde auf solche Hinweise verzichtet, um das Literaturverzeichnis überschaubar zu halten.
1 Wenn im Folgenden bei der Nennung von Personen im Hinblick auf eine bessere Lesbarkeit des Textes lediglich die Form des generischen Maskulinums verwandt wird, sind stets alle Geschlechter gemeint.
2 Ermann u. a. (2006)
3 Ermann (2014)
4 Die Idee, in diesem Buch auch grundlegende Informationen über die Verhaltenstherapie als zweite führende Methode in der Versorgung zu vermitteln, hat sich nicht bewährt. Ich habe mich anlässlich der 6. Auflage daher entschlossen, auf das Kapitel über die Verhaltenstherapie zu verzichten, und mich bei einzelnen Themen auf kurze Hinweise zur verhaltenstherapeutischen Sichtweise beschränkt. Im Übrigen sei auf die inzwischen vorliegende große Zahl hervorragender Einführungen in die Verhaltenstherapie verwiesen.
Für Susanne und Rainer, Gabriel und Samira
Einleitung: Das Arbeitsfeld der Psychotherapie und Psychosomatik
1 Annäherungen an das Psychische
2 Psychotherapie und Psychosomatik
2.4 Traditionelle und neuere Aufgaben
Psyche [griech.] bedeutet Seele, Soma heißt Körper. Unter Seele versteht man die gefühlshaften und geistigen Regungen.
Psychotherapie ist Krankenbehandlung mit psychologischen Mitteln.
Psychosomatik ist die Lehre von der Wechselwirkung zwischen seelischen, psychosozialen und körperlichen Prozessen in Gesundheit und Krankheit.
1 Annäherungen an das Psychische
Die Seele ist ein traditionelles Thema in der abendländischen Kultur. Seit der Antike beschäftigen sich Philosophie, Mythologie, Psychologie, Religion und Medizin mit dem menschlichen Erleben und Verhalten. Dabei wurden Seele und Körper in Anschluss an die griechische Philosophie traditionell als Ganzheit betrachtet. Das galt sowohl für die Philosophie, aus der heraus sich im 19. Jahrhundert die Psychologie entwickelt hat, als auch für die Medizin. Erst René Descartes stellte 1641 in seinen »Meditationen« die res cogitans, d. h. Geist, Seele, Bewusstsein, Verstand und Vernunft, den res extensa, d. h. dem Körper, gegenüber und prägte damit nachhaltig das abendländische Denken.
Ansätze der Psychologie
Erste systematische Abhandlungen über die Seele stammen von Platon und Aristoteles. Der Begriff Psychologie als Lehre von der Seele tauchte um 1500 auf. In der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert entstand ein zunehmendes Interesse an psychologischen Fragen, verbunden mit Namen wie Gottfried Wilhelm Leibnitz und Immanuel Kant. Sie betonten den empirischen Charakter der Psychologie. Dieser Ansatz wurde leitend, als im 19. Jahrhundert die Psychologie als akademisches Forschungsgebiet entstand: Sie verstand sich als empirische Wissenschaft. Inhaltlich beschäftigte sie sich mit Phänomenen wie dem Denken und der Wahrnehmung und rückte damit in die Nähe zur Neurophysiologie und Medizin. Methodisch stand sie den Naturwissenschaften und ihrem positivistischen Forschungsansatz nahe. Maßgeblich ist dafür die Verknüpfung von Experiment und Mathematik, die von Gustav Theodor Fechner eingeführt wurde. So gelten die Laborexperimente von Wilhelm Wundt in Leipzig als Beginn der akademischen Psychologie.
Als Gegenströmung zur experimentellen Psychologie entstand die geisteswissenschaftliche Richtung, die von Wilhelm Dilthey vertreten wurde. Er entwickelte mit der Hermeneutik einen verstehenden geisteswissenschaftlichen Ansatz. Dieser hat sich allerdings nie gegenüber dem naturwissenschaftlichen Ansatz durchgesetzt und gilt in der akademischen Psychologie als unwissenschaftlich. Diese Bewertung erfuhr auch die Psychoanalyse, die um 1900 von Sigmund Freud entwickelt wurde und sich außerhalb der akademischen Psychologie etablierte.
Auch heute versteht die akademische Psychologie sich als empirische Wissenschaft vom Erleben und Verhalten, die überwiegend an experimentellen naturwissenschaftlich-quantitativen Methoden orientiert ist. Als ein Bereich der angewandten Psychologie hat sich die klinische Psychologie etabliert, die psychologische Aspekte von psychischen Störungen und Folgen anderer Erkrankungen untersucht, Grundlagen und Methoden für deren Behandlung erarbeitet und die Ergebnisse von Interventionen wissenschaftlich evaluiert. Die psychologische Psychotherapie ist insoweit ein Teil der klinischen bzw. medizinischen Psychologie. Sie überschneidet sich in der Praxis mit der psychosomatischen bzw. psychotherapeutischen Medizin und Teilen der Psychiatrie.
Entwicklungen in der Medizin
In der Medizin ging die traditionelle ganzheitliche Sichtweise mit der naturwissenschaftlichen Wende in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verloren. Damals gewann ein physikalistisches Krankheitsverständnis unter dem Einfluss der Zellularpathologie von Rudolf Virchow und der energetischen Physiologie von Hermann von Helmholtz die Oberhand und verlagerte den Schwerpunkt der Krankheitslehre auf anatomische Strukturen und physikalisch-energetische sowie biochemische Vorgänge. In der Folge entstand eine positivistische Annäherung an Patienten und ihre Krankheiten, die auf das Messbare zentriert war.
Auch in der Psychiatrie entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine stärkere Nähe zu der zunehmend naturwissenschaftlich orientierten Medizin. Sie stellte eine Abwendung von der metaphysischen Orientierung der naturphilosophisch ausgerichteten romantischen Psychiatrie dar und rückte die biologische Erforschung psychischer Erkrankungen in den Vordergrund. Diese Wende ist mit Wilhelm Griesinger verbunden, der als Vertreter der materialistischen Psychiatrie gilt. Er forderte, Geisteskrankheiten