Behandlungen, d. h. Patienten mit Strukturstörungen. Seit etwa 1975 bilden Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen, narzisstischen Störungen und Borderline-Störungen eine immer stärkere Patientengruppe. Heute stellen sie rund die Hälfte der Behandlungsfälle dar.
Als jüngeres Arbeitsfeld entstand die Arbeit mit primär körperlich Kranken mit Problemen bei der Krankheitsbewältigung und psychischen Folgen ihrer Erkrankungen und deren medizinischer Behandlung. Dieser Bereich bildet als somatopsychische Medizin die zweite Säule der Psychosomatik. Weitere aktuelle Aufgaben sind das Krankheits- und Gesundheitsverhalten, Prävention und Rehabilitation und – seit inzwischen längerer Zeit – die Behandlung von Patienten mit posttraumatischen Störungen, die lange in der Psychotherapie wenig Beachtung gefunden hatten (
5 V. Weizsäcker (1940)
6 Engel (1962)
7 V. Uexküll u. Wesiack (1996)
8 Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) v. 22. Juli 1946
9 Strotzka (1975)
10 Zugleich wurde der Psychotherapie innerhalb der Psychiatrie durch die gegenwärtige Weiterbildung und die erweiterte Gebietsbezeichnung »Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie« Rechnung getragen.
11 Eine umfassende Übersicht findet sich bei Schiepek (2003/2016), Haken u. Schiepek (2006) sowie Brunner (2017)
1 Psychosoziale Aspekte des Krankseins
1.1.1 Psychosoziale Risikofaktoren
1.2 Krankheitsbewältigung – Das Coping-Konzept
1.2.1 Bewältigungsprozess und Bewältigungsformen
1.2.2 Krankheitsbezogene Bewältigungsaufgaben
1.3 Die therapeutische Beziehung
Die Weltgesundheitsorganisation beschreibt Gesundheit als einen Zustand des körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens, während sie Krankheit als Abwesenheit der so verstandenen Gesundheit definiert.
Was als krank und was als gesund betrachtet wird, unterliegt gesellschaftlichen Wertungen und einem historischen Wandel und hängt davon ab, welche Toleranz eine Gesellschaft für Abweichungen von der Norm hat. Je mehr ein Befinden, ein Erleben oder Verhalten als krank definiert wird, desto mehr wird es ausgegrenzt und zur Aufgabe der Medizin. Dabei bilden Krankheit und Gesundheit keine Pole, die sich ausschließen. Es gibt zwischen beiden Zuständen vielmehr Abstufungen und Übergänge. Ob jemand sich krank fühlt, ob und in welchem Ausmaß er darunter leidet und ob er sich in Behandlung begibt, hängt von einer Vielzahl persönlicher Eigenschaften und Einstellungen und von der Haltung und Reaktion der Umgebung ab. Bedeutende individuelle Faktoren sind dabei Empfindsamkeit und Klagsamkeit, Vulnerabilität und Stressresistenz.
1.1 Krankheitsrisiko
Gesundheit ist ein dynamisches Gleichgewicht zwischen körperlichen und seelischen Strukturen und Funktionen im Austausch mit der Umwelt. Das Gesundheitsverhalten dient dazu, dieses Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, indem die Betroffenen Störungen ausgleichen oder vorbeugende Maßnahmen ergreifen, auch wenn noch keine Beeinträchtigungen bestehen.
Demgegenüber führt ein Risikoverhalten kurzfristig oder langfristig zur Beeinträchtigung der Gesundheit, vor allem bei den sog. Zivilisationskrankheiten. Risikoverhalten ist z. B. Bewegungsmangel, Fehlernährung, Alkohol- und Nikotinkonsum, Vernachlässigung von Früherkennungsmaßnahmen u. a. Die Ursachen des Risikoverhaltens liegen weniger in fehlender Aufklärung und geringem präventiven Wissen als in bewussten und unbewussten Motiven, wie z. B. in einer Selbstbestrafung oder latenter Suizidalität oder in der Psychodynamik süchtigen Verhaltens.
1.1.1 Psychosoziale Risikofaktoren
Die psychosomatische Forschung hat mit dem Konzept der psychosozialen Risikofaktoren ein Modell der Entstehung und Auslösung von Krankheiten entwickelt, das in gleicher Weise für somatische, psychosomatische und psychische Störungen Gültigkeit hat (
Psychosoziale Risikofaktoren
• Stress, chronische Überforderung, z. B. durch Arbeitsunzufriedenheit und Überlastung am Arbeitsplatz oder durch anhaltende familiäre Probleme
• Belastende emotionale Erlebnisse, kritische Lebensereignisse (Life events), z. B. Verlust nahestehender Menschen
• Chronische Krankheit und Behinderung, Pflegefälle in der Familie
• Ungünstige sozioökonomische Bedingungen, finanzielle Sorgen
• Starke soziale Mobilität, Migration, Flucht und Vertreibung
• Persönlichkeitsmerkmale, insbesondere eine sog. Risikopersönlichkeit (s. unten)
Stress
Als generelles Krankheitsrisiko gilt der Stress.12 Darunter versteht man psychische, psychosoziale und körperliche Belastungen, die das seelische und körperliche Gleichgewicht bedrohen. Sie rufen Stressreaktionen hervor, die von der Intensität und Art des Stressors, von Persönlichkeitsfaktoren und vom persönlichen Umfeld abhängen. Ob damit eine Anpassung gelingt oder ob es zur Manifestation psychischer und somatischer Krankheiten kommt, hängt von der Art und Intensität der Belastungen, von Persönlichkeitsfaktoren und von den Umgebungsfaktoren ab, z. B. vom Ausmaß der sozialen Unterstützung.13
Die Verknüpfung zwischen äußerer Stressbelastung, innerer Disposition und Krankheitsmanifestationen wird durch konstitutionell angelegte Stressbewältigungsprogramme geregelt. Diese werden durch die Erfahrungen in den frühen Entwicklungsjahren ausgeformt. Dabei scheinen insbesondere traumatische und Trennungserfahrungen Beeinträchtigungen zu bewirken. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen Stressbewältigung und Bindungserfahrungen.
Solche Programme wurden beispielhaft in der Psychoimmunologie14 untersucht. Dabei wurde entdeckt, dass über hormonelle und neuronale Übertragungswege eine enge Verknüpfung zwischen affektiven Zuständen und dem Immunsystem besteht. Sie ist die Basis dafür, dass psychisch belastende Zustände das Immunsystem schwächen können. Dadurch können die Betroffenen für Krankheiten anfällig werden – vom banalen grippalen Infekt bis hin zu schwerwiegenden Erkrankungen. Diese Erkenntnisse erklären das häufige Zusammentreffen von Krankheit und Belastung, z. B. bei Verlusterlebnissen (Tod und Trauer) und nach Trennungen. Ähnliche Zusammenhänge werden auch für Krebserkrankungen diskutiert, sind dort aber umstritten.
Die Neurobiologie beschreibt die somatischen Korrelate solcher Reaktionen auf der humoralen und morphologischen Ebene. Dabei hat der Hippocampus als zentrale Schaltstelle des limbischen Systems eine herausragende Bedeutung. Über die Ausschüttung von Stresshormonen (Interleukin, Kortisol) kommt es zunächst zu funktionellen Veränderungen im Gehirn und bei anhaltendem Stress zu dauerhaften, wahrscheinlich organischen Veränderungen.