Michael Ermann

Psychotherapie und Psychosomatik


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Aus deskriptiver Sicht bestehen zwei Störungen; aus psychodynamischer kann man annehmen, dass die Spannungsabfuhr durch Erschöpfung der Abwehr oder zusätzliche belastende Faktoren ausgeschöpft ist und deshalb eine »Zweitkrankheit« erforderlich ist. Man wird dieses Syndrom als ein Phänomen behandeln.

      • Reine Koinzidenz besteht, wenn keine plausible Verknüpfung zwischen den Erkrankungen zu erkennen ist, z. B. eine Angststörung und ein Diabetes.

      • Eine sekundäre psychogene Störung kann man annehmen, wenn eine Verknüpfung in dem Sinne besteht, dass die körperliche Erkrankung als psychodynamisch spezifische Auslösesituation fungiert und eine psychische Dekompensation bewirkt. Im Allgemeinen führt die körperliche Grunderkrankung dann zur Regression und aktiviert Affekte, die dann mit der Symptomatik abgewehrt werden. So kann ein Herzinfarkt verdrängte Todesängste aktivieren und eine depressive Störung triggern.

      • Auch bei den somatopsychischen Störungen kann man von einer Komorbidität sprechen. Hier erscheint die psychogene Störung als seelische Reaktion auf eine primär körperliche Erkrankung. Im Unterschied zu den sekundären psychogenen Störungen gibt es hier aber keine vorbestehende neurotische Disposition. Beispiele sind depressive Reaktionen nach einer Krebsdiagnose oder Brustamputation.

      • Auch symptomatische psychische Störungen sind in Betracht zu ziehen. Psychische Störungen können nämlich auch durch pathophysiologische Prozesse hervorgerufen werden. So gibt es symptomatische Depressionen und Angstzustände als Folge von Entgleisungen der hormonellen Steuerung (Hypo- und Hyperthyreose) oder durch Toxine (z. B. in der Rekonvaleszenz nach einer Infektion) (image Kap. 14.13).

      • Schließlich ist als verwandtes Phänomen auch die Ätiologie der Psychosomatosen (image Kap. 12) zu bedenken: So kann eine Depression im Zusammenwirken mit körperlichen Krankheitsfaktoren und einem belastenden Life event eine körperliche Krankheit im Sinne einer Psychosomatose hervorrufen, z. B. ein Magengeschwür.

      Man versteht unter Coping (to cope [engl.] umgehen mit, bewältigen) das bewusste bzw. bewusstseinsnahe Bemühen, psychische Belastungen, die im Zusammenhang mit Krankheiten auftreten, emotional, kognitiv und durch Handeln zu bewältigen.

      Krankheitsbewältigung und Krankheitsverlauf stehen in einer Wechselwirkung zueinander: Die Art und Effizienz der Krankheitsbewältigung wirkt sich auf den Verlauf der Krankheit aus; umgekehrt führen bestimmte Einbrüche im Verlauf einer Krankheit zu neuen Bewältigungsaufgaben. Wichtige krankheitsbedingte Belastungen, d. h. wichtige Bewältigungsaufgaben, sind:

      • Veränderungen der Unversehrtheit des Körpers und des Wohlbefindens

      • Änderungen im Selbstbild und Körperschema, Verlust von Autonomie und Kontrolle über den Körper und die Situation

      • Störungen des emotionalen Gleichgewichts, Gedanken an Sterben und Tod

      • Verunsicherung hinsichtlich der Veränderung von Verantwortung und sozialen Aufgaben

      • Notwendige soziale Anpassungsleistungen, Sorgen um Angehörige und um den Arbeitsplatz

      Subjektive Krankheitstheorie

      Einen bedeutenden Einfluss auf die Krankheitsbewältigung haben die Vorstellungen, welche die Betroffenen sich von den Ursachen und der Funktion ihrer Krankheit machen, und welche Bedeutung sie ihr zuschreiben (attribuieren). Wir sprechen von der subjektiven Krankheitstheorie. Sie steht oft im Widerspruch zum medizinischen Krankheitsverständnis und zum rationalen Wissen der Betroffenen. Teilweise ist sie bewusst, großenteils aber unbewusst. Indem sie das Krankheitsverhalten beeinflusst, ist sie eine Einflussgröße auf den Krankheitsverlauf und das Ergebnis des Bewältigungsprozesses.19

      In der subjektiven Krankheitstheorie schlagen sich persönliche Erfahrungen und Kenntnisse sowie familiäre und soziokulturelle Haltungen und Bewertungen nieder. Dabei können einer Krankheit verschiedene Bedeutungen zugeschrieben werden: Selbstbestrafung, Auflehnung, Entlastung, Verlust oder Bedrohung u. v. a. Diese Zuschreibungen werden aus der Persönlichkeit des Betroffenen verständlich und können oft aus seiner Lebensentwicklung heraus nachvollzogen werden.

      Eine Krankheit bedeutet nicht nur eine Störung des körperlich-seelischen Gleichgewichts, sondern oft auch einen Verlust von Möglichkeiten und Fähigkeiten. Sie wirkt innerseelisch wie ein Verlusterlebnis und löst eine Art Verlust- bzw. Trauerarbeit aus, einen Prozess, der phasenhaft verläuft. Er wird als Bewältigungsprozess20 bezeichnet. Wenn die Bewältigung misslingt, treten Symptome auf, die als somatopsychische Anpassungsstörung (image Kap. 6.3) bezeichnet werden. Phänomenologisch betrachtet, handelt es sich dabei zumeist um depressiv-ängstliche Syndrome bzw. Somatisierungsstörungen.

      Bewältigungsprozesse haben eine kognitive, eine affektive und eine handlungsbezogene Dimension. Man unterscheidet dabei verschiedene Bewältigungsformen (image Übersicht). Sie lassen sich zu drei typischen Bewältigungsstilen zusammenfassen21: Verleugnung, aktive Auseinandersetzung und depressiver Rückzug.

      Wichtige Bewältigungsformen (Copingstrategien)

      • Verleugnung der Krankheit

      • Sich ablenken

      • Zupacken

      • Schuldzuweisung an andere

      • Rückzug und Resignation

      • Dissimulieren von Krankheitserscheinungen

      • Problemanalyse

      • Haltung bewahren

      • Gefühlsisolation: Nichtwahrnehmen von Gefühlen

      An der Bewältigung einer Krankheit sind auch psychodynamische Faktoren beteiligt. So ist die Art und Weise, wie man mit einer Krankheit umgeht, z. B. davon abhängig,

      • welche subjektive Bedeutung man ihr zuschreibt (subjektive Krankheitstheorie): ob man in ihr eine gerechte Bestrafung sieht oder eine »unverdiente Bestrafung«, eine Gefährdung der Sicherheit und Anerkennung usw.,

      • welche früheren Erfahrungen mit Krisen und Krankheit man gemacht hat: So kann eine Erkrankung wie eine Retraumatisierung nach früheren unverarbeiteten Verlusterlebnissen wirken,

      • welche Erfahrungen mit hilfreichen Beziehungen man in seinem Leben gemacht hat.

      Dieser psychodynamische Einfluss auf das Bewältigungsverhalten ist im Allgemeinen unbewusst und dient in seinen verschiedenen Formen der Abwehr von unbewussten Ängsten, die im Zusammenhang mit Krankheiten entstehen. Sie stellen, neben den äußeren Belastungen, eine zusätzliche Bewältigungsaufgabe dar.

      Bewältigung und Abwehr22

      Bewältigung und Abwehr beschreiben ähnliche und teilweise sogar identische Vorgänge aus der Sicht verschiedener theoretischer Konzepte: Das Abwehrkonzept stammt aus der Psychoanalyse, das Bewältigungskonzept aus der Verhaltensmedizin. Dadurch ergeben sich begriffliche Unklarheiten, die auch durch eine Gegenüberstellung wie die folgende nicht endgültig aufzuheben sind. Es bleibt eine Unschärfe der Abgrenzung, die beim Mechanismus der Verleugnung besonders deutlich ist.

      • Bewältigungs- oder Copingverhalten zielt auf bewusste Erlebnisse ab, z. B. auf Behinderungen