Michael Ermann

Psychotherapie und Psychosomatik


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Denken, für die romantische Psychiater wie Carl Gustav Carus gleichsam den Boden bereitet hatten, in der Psychiatrie lange keine Chance.

      In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die anthropologische Medizin. Sie ist eine Reaktion auf die naturwissenschaftliche Ausrichtung der Medizin der Moderne. Sie rückt den einzelnen Menschen, sein Schicksal, sein Erleben und seine Geschichte in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Ihr Programm ist eine allgemeine psychosomatische Orientierung mit dem von Viktor von Weizsäcker formulierten Ziel, verstärkt wieder »das Subjekt in die Medizin einzuführen«5. Unter dem Einfluss der Psychoanalyse verstand er Krankheiten als pathologische Selbstverwirklichung, die ihren Sinn in der Biografie des Betroffenen findet.

      »Psychosomatisch« in diesem allgemeinen Sinne bezeichnet die grundsätzliche ärztliche bio-psycho-soziale Orientierung. Sie wird auch als ganzheitliche Medizin bezeichnet. Diese Orientierung ist darum bemüht, seelische, soziale und körperliche Aspekte des Krankseins zu integrieren und bei der Behandlung von Kranken gleichrangig zu beachten. Sie kennzeichnet eine aufgeklärte ärztliche Einstellung, die – zumindest als Ideal – den Umgang mit allen Patienten prägen sollte. Damit erhält auch die Psychologie als Psychotherapie einen festen Platz in der »Körpermedizin«.

      Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell

      Die psychosomatische Anthropologie hat sich über lange Zeit mit dem Leib-Seele-Problem befasst und dabei die Wechselwirkung zwischen seelischen und körperlichen Vorgängen in das Zentrum ihrer Überlegungen gerückt. Dieser Ansatz beschrieb psycho-somatische und vegetative Zustände zuerst als Funktionskreise. Dabei handelt es sich um psycho-vegetative Erregungs- bzw. Regelkreise im Organismus, die durch Impulse zwischen Nervenzellen aufrechterhalten werden.

      Heute hat sich ein umfassenderes bio-psycho-soziales Modell6 durchgesetzt. Danach steht der Funktionskreis zwischen Leib und Seele seinerseits in einem Wechselverhältnis zur Umwelt, die den Menschen prägt und die von ihm geprägt wird. Je nach Interesse, Ansatz und Methodik des Untersuchers rückt einmal mehr die biologische, ein anderes Mal die psychologische, zwischenmenschliche oder soziokulturelle Perspektive bei der Betrachtung des Einzelfalles in den Vordergrund. Entscheidend, weitgehend aber noch im Bereich der Spekulation, sind die Prozesse und Mechanismen, die das Zusammenwirken dieser Prozessfaktoren im Krankheitsgeschehen beherrschen.

      Man berücksichtigt also in gleicher Weise die körperlichen, seelischen, psychosozialen und materiellen Aspekte des Lebens, um Kranksein und speziell das psycho-somatische Zusammenspiel zu verstehen. Dabei muss man nicht nur Ursachen, Entstehungsbedingungen und Folgen einer Erkrankung untersuchen, sondern auch die Wechselwirkungen zwischen diesen Dimensionen betrachten.

      Das gängige Modell für diese systemische Sichtweise von Krankheiten ist der Situationskreis7 von Thure v. Uexküll (image Abb. 0.1). Er beschreibt die Beziehung zwischen Individuum und Umwelt als einen stufenweisen Problemlösungsprozess, der durch die Wahrnehmung von Lösungsaufgaben, Bewertungen des Problems, phantasierte Handlungsentwürfe zu seiner Bewältigung, Probehandlungen und endgültiges Problemlösungshandeln dargestellt wird. Krankheit ist gleichbedeutend mit Störungen in diesem zirkulären Prozess; Krankheit bewirkt Störungen und wird durch Störungen hervorgerufen.

      Abb. 0.1: Der Situationskreis nach v. Uexküll

      Das Arbeitsfeld der Psychotherapie und Psychosomatik umfasst die psychotherapeutische Behandlung psychisch bedingter und mitbedingter Störungen. In der Medizin ist es in verschiedenen Disziplinen enthalten, während es in der Psychologie der »Klinischen Psychologie« zugerechnet wird. In Deutschland wurde mit der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie ein eigenständiges medizinisches Fachgebiet etabliert.

      Psychisch bedingte und mitbedingte Störungen werden als psychogene Störungen bezeichnet. »Störung« beschreibt dabei krankheitswertige Abweichungen des Befindens, der psychischen Funktionen oder auch körperlicher Zustände. Der Begriff »Störung« umfasst mehr als der Begriff »Krankheit«. Dieser gilt als veraltet, seit die Weltgesundheitsorganisation 1946 in ihrer Verfassung Gesundheit als »Zustand eines vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens«8 definiert hat, was über die bloße Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen hinausgeht.

      Am Anfang dieses Kapitels (s. oben) steht die wahrscheinlich einfachste Definition von Psychotherapie: Psychotherapie ist Krankenbehandlung mit psychologischen Mitteln. Zur genaueren Definition muss man Intention, Ziel, Mittel und theoretische Grundlagen näher beschreiben. Danach gehört zur Psychotherapie9

      • als Intention: ein geplanter interaktioneller Prozess,

      • als Ziel: definierte Veränderungen, z. B. Persönlichkeitsänderung oder Symptomminderung,

      • als Mittel: verbale und nonverbale Kommunikation oder andere (z. B. anleitende) Techniken,

      • als Hintergrund: eine definierte Theorie, z. B. die psychoanalytische Behandlungstheorie, die den Behandlungsplan begründet.

      Ebenfalls einleitend wurde Psychosomatik als Lehre von der psycho-sozio-somatischen Wechselwirkung in Gesundheit und Krankheit definiert. Wechselwirkung bedeutet dabei, dass sie sich nicht nur mit psychischen Ursachen und Teilursachen von Erkrankungen befasst, sondern auch mit den psychischen Folgen. Das gilt insbesondere für bedrohliche und chronische Erkrankungen und ihre Behandlung (Transplantationen, Dauermedikation, Dialyse, soziale Folgen usw.). Es wird also ausdrücklich nicht von einer geradlinigen Kausalität ausgegangen.

      Psychogene Störungen

      Wie bereits erwähnt (siehe Kasten), werden psychisch bedingte und mitbedingte Störungen als psychogene Störungen bezeichnet. Sie sind außerordentlich häufig. Es handelt sich um Krankheiten, an deren Entstehung seelische Faktoren maßgeblich beteiligt sind. Diese sind das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels zwischen seelischen, körperlichen und soziokulturellen Einflüssen. Sie machen rund ein Drittel der Erkrankungen in der Allgemeinpraxis und in der Praxis des Internisten aus. Aber auch in der Gynäkologie, Orthopädie, Dermatologie und Pädiatrie, um nur die wichtigsten Gebiete zu nennen, sind sie häufig (image Kap. 13).

      Die Symptome und Krankheitsmanifestationen der psychogenen Störungen sind vielfältig. Sie reichen von seelischen Störungen (z. B. Ängste) über Verhaltensstörungen (z. B. Essstörungen), Charakterstörungen (z. B. pathologische Eifersucht) und Organfunktionsstörungen (z. B. funktionelle Herzbeschwerden) bis hin zu organischen Veränderungen, beispielsweise in Form von Entzündungen (z. B. Rheuma) oder Geschwürbildungen (z. B. Colitis ulcerosa).

      Psychogene Störungen umfassen vier Gruppen (image Abb. 0.2): reaktive Störungen, posttraumatische Störungen, Konflikt- und Strukturstörungen sowie Psychosomatosen. Konflikt- und Strukturstörungen haben eine gemeinsame Ätiologie: Sie beruhen auf einer erlebnisbedingten Fehlentwicklung, die in der Kindheit verwurzelt ist. Man spricht von einer neurotischen Disposition und fasst sie als »neurotische Störungen« zusammen. Im Unterschied dazu haben reaktive und posttraumatische Störungen keine spezifische Disposition. Bei der vierten Gruppe, den Psychosomatosen, muss man neben psychischen Krankheitsfaktoren eine konstitutionelle somatische Disposition annehmen.

      Behandlung