zur reifen Persönlichkeitsorganisation
Die psychoanalytische Entwicklungs- und Strukturdiagnostik befasst sich mit dem Zusammenhang zwischen der entwicklungsdynamischen, der strukturellen und der funktionalen Dimension der Persönlichkeitsorganisation. Dabei gelangt sie zu einem entwicklungsdynamischen Kontinuum von Organisationsmustern, die als strukturelles Entwicklungsniveau oder – kurz – Strukturniveau beschrieben werden. In diesem Buch wird zwischen dem niederen, mittleren, höheren und einem reifen Strukturniveau unterschieden.
Die Terminologie in diesem Bereich ist unübersichtlich. Daher wird hier zunächst ein Überblick über die Begriffe gegeben (
Begriffe zur Entwicklungsdiagnostik
• Niederes Strukturniveau
– Synonym: Niederes strukturelles Entwicklungsniveau
– OPD: gering integriertes Niveau
– Äquivalent: Entwicklungspathologie, Strukturpathologie
– Wenn man die strukturellen Defizite betonen will: Strukturstörung, strukturelle Störung, strukturelle Ichstörung
– Systematik von Kernberg: Borderline-Persönlichkeitsorganisation, niederes Niveau
– Klinische Manifestationen: Borderline-Störung, schwere Persönlichkeitsstörung
– Traditioneller psychoanalytischer Begriff: frühe Störung
• Mittleres Strukturniveau
– Synonym: Mittleres strukturelles Entwicklungsniveau
– OPD: mäßig integriertes Niveau
– Äquivalent: präödipale Pathologie oder Persönlichkeitsorganisation
– Systematik von Kernberg: Borderline-Persönlichkeitsorganisation, höheres Niveau
– Klinische Manifestationen: präödipale Störung (z. B. depressive Störung, narzisstische Störung auf mittlerem Strukturniveau)
– Traditioneller psychoanalytischer Begriff: narzisstische Neurose, depressive Neurose (wenn die entsprechende Pathologie überwiegt)
• Höheres Strukturniveau
– Synonym: höheres strukturelles Entwicklungsniveau
– OPD: gut integriertes Niveau
– Äquivalent: Konfliktpathologie, neurotische Persönlichkeitsorganisation
– Klinische Manifestationen: Konfliktstörung oder Störung auf höherem Strukturniveau
– Traditioneller psychoanalytischer Begriff: neurotische oder klassische neurotische Störung, bisweilen auch einfach »Neurose«
4.1 Entwicklung und Struktur
Bei der Beschreibung der typischen Entwicklung und der psychogenen Pathologien wurde ausführlich dargestellt, dass eine einigermaßen ungestörte Kindheit und Jugend die Voraussetzung für seelische Gesundheit im Erwachsenenalter ist. Umgekehrt bilden Beeinträchtigungen der Entwicklung ein beträchtliches Risiko für die spätere Gesundheit und prädisponieren zu neurotischen Erkrankungen. Für das Verständnis dieser Zusammenhänge sind drei Aspekte bedeutungsvoll:
• Die einzelnen Phasen im Entwicklungsprozess sind mit phasenspezifischen Bewältigungsaufgaben verknüpft.
Die seelische Entwicklung, d. h. die Entfaltung und Ausdifferenzierung der Persönlichkeit, wird von seelischen, körperlichen und sozialen Reifungsprozessen getragen, die einen phasenhaften Verlauf haben. In Kapitel 2.3 (
• Jede Entwicklungsphase ist durch charakteristische Bewältigungsstrategien und Ergebnisse ausgezeichnet.
Entwicklung und Reifung stehen in einer Wechselwirkung zueinander. Einerseits fordert der Entwicklungsprozess zur Bewältigung phasenspezifischer Aufgaben heraus, andererseits bestimmen der biologische Reifegrad und der Entwicklungsstand der Persönlichkeit darüber, mit welchen psychischen Mitteln und in welchen Modi die Herausforderungen gemeistert werden können. Es ist zum Beispiel ein großer Unterschied, ob ein Konflikt mit Hilfe der Spaltungsabwehr oder der Verdrängungsabwehr bewältigt wird oder ob Erinnerungen prozedural oder deklarativ verarbeitet und im impliziten oder im expliziten Gedächtnis aufbewahrt werden.
• Im Aufbau einer psychogenen Störung, d. h. in ihrer Struktur und Funktion, spiegelt sich der Reifegrad und Entwicklungsstand der Persönlichkeit, d. h. das Organisationsniveau, das zum Zeitpunkt der zentralen Entwicklungsstörung erreicht worden war.
Störungen der Entwicklung beruhen darauf, dass bestimmte Erlebnisse, Erfahrungen und Konflikte in einem bestimmten Stadium der Entwicklung nicht bewältigt und gelöst werden können. Das führt dazu, dass die nicht verarbeiteten Erfahrungen in chiffrierter Form als pathogener Kern erhalten bleiben – als ein Entwicklungsdefizit, ein verdrängter Konflikt oder als ein abgekapseltes Introjekt (
Die Art der Bewältigung der zentralen Entwicklungspositionen, von frühen Traumatisierungen, Entwicklungskrisen und Konflikten formt die Struktur der Persönlichkeit und der darauf aufbauenden psychogenen Störungen. Sie prägt die gesamte seelische Organisation. Die frühen Erfahrungen beeinflussen auf diese Weise die Ausgestaltung des Bedürfnis-, Gefühls- und Beziehungserlebens und damit die Perspektive, aus der heraus das Leben erlebt und bewältigt wird.
Dieser Zusammenhang zwischen der entwicklungsdynamischen, der strukturellen und der funktionalen Dimension der Persönlichkeitsorganisation ist gemeint, wenn im Folgenden von Strukturniveau gesprochen wird. Es wird in der Strukturdiagnostik erfasst (
Dieser Ansatz wurde systematisch zuerst von Otto F. Kernberg vertreten. Er beschrieb ein neurotisches, ein höheres borderlinehaftes, ein niederes borderlinehaftes sowie ein psychotisches Organisationsniveau der Persönlichkeit.112
Dieses Buch stützt sich auf seinen Ansatz und geht von den Polen einer höher strukturierten neurotischen und einer niederstrukturierten Borderline-Persönlichkeitsorganisation aus. Sie werden hier als höheres und niederes Strukturniveau bezeichnet. Es beschreibt im Übergangsbereich dazwischen ein mittleres Strukturniveau. Es ist durch das gemeinsame Auftreten und Zusammenwirken von frühen und reifen Organisationsmustern gekennzeichnet und charakterisiert die präödipale Persönlichkeitsorganisation. Diese Kategorie erscheint geeignet, die Vielzahl von Störungen zwischen Konflikt- und Entwicklungspathologie zu erfassen, die den größten Teil der Behandlungsaufgaben in der psychotherapeutischen Praxis ausmachen. Daneben wird kurz auch eine reife,