Michael Ermann

Psychotherapie und Psychosomatik


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dar. Je nachdem, ob in der Weiterverarbeitung mehr die Sorge um die Stabilität des Selbst oder ob Bedürfnisse und Selbstbehauptung im Vordergrund stehen, ergeben sich für die weitere Verarbeitung zwei Entwicklungslinien: die narzisstische und die depressive (image Abb. 4.1). Trotz der Verschränkung von Befriedigung und Selbstbehauptung einerseits und narzisstischer Anerkennung und Bestätigung andererseits und trotz der Gemeinsamkeit in der Grundstruktur der Persönlichkeitsorganisation können beide klinisch gut voneinander unterschieden werden.

      Demnach ergibt sich auf dem mittleren Strukturniveau eine narzisstische und eine depressive Pathologie. Dabei zeigen sich jeweils zwei Verarbeitungsmodi: der aktiv bzw. ängstlich vermeidende und der passiv-abhängige Typ (image Tab. 4.4).

      In den deskriptiven Klassifikationen nach ICD-10 werden der aktiv-vermeidende und der passiv-abhängige Verarbeitungstyp eigenständig dokumentiert, und zwar als ängstlich-vermeidende (ICD-10: F60.6) und abhängige (F60.7) Persönlichkeitsstörung dokumentiert (image Kap. 8.6.5). Letztere wird nach DSM auch dependent genannt.

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      Bei der präödipalen narzisstischen Pathologie besteht die Weiterverarbeitung des Autonomiekomplexes in der Hinwendung des Interesses zur eigenen Person. Dabei kann man einen abhängigen von einem vermeidenden Typ unterscheiden.

      Der passiv-abhängige Typ

      Der abhängige Typ wird gelegentlich auch als vulnerabler Typ bezeichnet. Die Betroffenen geben sich angepasst und fügsam. Ihr Verhalten ist durch Selbstunsicherheit, Zurückhaltung und Schüchternheit geprägt. Es bestehen Selbstzweifel und Minderwertigkeitsphantasien sowie Gefühle der Unterlegenheit und Unvollkommenheit. Sie repräsentieren den negativen, »nur-schlechten« Pol des Selbst und der inneren Welt und die aggressiv besetzten Beziehungsrepräsentanzen nach dem Konzept: »Ich bin nichts wert, weil niemand mich für wertvoll hält«. Darin äußern sich die Spiegelungsdefizite der frühen Entwicklung und der Mangel an positiven Beziehungserfahrungen in unmittelbarer Weise. Sie bewirken Leeregefühle, dysphorische Zustände und Selbstentwertung und stehen in Beziehung zu einem unermesslichen unbewussten Hass.

      Die Betroffenen geben sich vordergründig unterwürfig, aggressionsgehemmt und schaffen durch Idealisierung anderer Bindungen. Durch unbewusste Kontrolle über deren Erleben und Verhalten werden Verlustängste vermieden. So schaffen sie durch Idealisierung Schuldgefühle und Beschämung, wenn der idealisierte andere nicht ihren Ansprüchen und Erwartungen entspricht. Auch durch eine beständige Enttäuschungsbereitschaft und untergründige Feindseligkeit verbreiten sie Furcht vor Entwertung, der sich ein Partner nur schwer entziehen kann. Wenn der Andere nicht mehr den Erwartungen entspricht, wird er entwertet und fallengelassen.

      Zur Abwehr von depressiver Leere können andere idealisiert werden, aber auch, um sie vor untergründigem Hass zu schützen. Die Idealisierung und Überschätzung der anderen ermöglicht es, an deren Größe teilzuhaben und das eigene Selbst aufzufüllen. Die Betroffenen begeben sich in Abhängigkeit, um sich durch die Anwesenheit ihrer Selbstobjekte zu stabilisieren. Die Idealisierung steht auf tönernen Füßen. Sie kann bei schon geringen Enttäuschungen in eine vernichtende Entwertung umschlagen und einer unbändigen narzisstischen Wut Platz machen.

      Der aktiv-vermeidende Typ

      »Typische« Narzissten gehören zum vermeidenden Typ, den man auch als pseudo-unabhängigen oder grandiosen Typ bezeichnen kann. Sie verbergen ihre Abhängigkeit von Anerkennung und Bestätigung hinter Größenphantasien und entwickeln anderen gegenüber ein selbstbezogenes, bisweilen rücksichtsloses, manipulatives und herablassendes Verhalten. Mit den Größenphantasien wird die Abhängigkeit verleugnet. Sie beruhen auf einer übermäßigen Ausrichtung des Interesses auf die eigene Person: Selbstbezogenheit und Egoismus, Neigung zur Selbstdarstellung und ein demonstrativ selbstsicheres Auftreten.

      Die Betroffenen verschaffen sich mit Engagement, Ehrgeiz, selbstversonnenem Charme und strahlenden Leistungen Erfolg und Anerkennung. Sie fordern ständig Aufmerksamkeit, sind aber selbst wenig an anderen interessiert und sind unfähig, sich in andere einzufühlen. Sie idealisieren sich selbst und ziehen Aufmerksamkeit auf sich. Sie erzeugen damit die Bewunderung, die sie unbedingt brauchen, um ihr fragiles Selbst zu schützen. Auf diese Weise können sie indirekt ihrer Objektabhängigkeit nachkommen und sie zugleich unbewusst halten.

      Meistens gelingt es ihnen bewundert zu werden. In bestimmten Lebensbereichen haben sie mit ihrem narzisstischen Auftreten Erfolg, etwa in Führungspositionen und in der Politik. Dadurch können fehlende Freundschaften, Isolation und Langeweile mit sich selbst oft lange kompensiert werden. Wenn der Erfolg ausbleibt, brechen die Größenphantasien zusammen und lassen unermessliche destruktive Phantasien zum Vorschein kommen. Sie schlagen sich in narzisstischer Wut nieder und geben massiven Minderwertigkeitsphantasien und Gefühlen der Wertlosigkeit Raum.

      Symptomentstehung

      Kränkungen sowie Verluste der Bewunderung von Menschen, die für den eigenen Narzissmus wichtig sind (bestätigende Selbstobjekte), führen zu narzisstischen Krisen mit Wut und Impulsen, den Anderen zu vernichten. Tatsächlicher Verlust bedroht das Selbstwertgefühl; im Extremfall kommt es zur Regression und zur Fragmentierung, d. h. das Selbstgefühl kann nicht mehr aufrechterhalten werden. Dieser Zustand der akuten narzisstischen Dekompensation ist von heftigen Affekten begleitet: von Angst, Wut, sexueller Erregung und von körperlichen Begleitreaktionen. Unter Umständen entwickelt sich im Rahmen der Regression sogar vorübergehend eine diskrete psychotische Symptomatik mit Verfolgungsideen und paranoiden Ängsten.

      Als Gegenbewegung gegen die Dekompensation werden alle verfügbaren Abwehrmechanismen aufgeboten:

      • Entwertung: Das verletzende oder abwesende Selbstobjekt wird aufgegeben. Es kommt zum Kontaktabbruch und es entstehen Zustände von psychischer Leere. Narzisstischer Rückzug in die Welt der Größenphantasien führt zur Verleugnung des Verlustes und des Schmerzes durch ein kühles oder herablassendes Verhalten.

      • Narzisstische Wut: Die Kränkung erweckt destruktive und auch sexuelle Impulse, die aus Wut und Erregung herrühren. Sie führen zu psychischen Symptomen (Depressionen, Angstsymptome) oder werden als Verhaltensstörungen (bulimische Attacken, perverse Akte) abreagiert.

      Damit sind auch bereits die Symptome der narzisstischen Krise (image Kap. 8.3) erkennbar. Im Übrigen entstehen beim Zusammenbruch der narzisstischen Abwehr depressive Störungen, Angststörungen und Somatisierungssyndrome. Diese Störungen auf mittlerem Strukturniveau im Rahmen einer narzisstischen Pathologie werden auch als narzisstische Neurosen bezeichnet. Sie bilden die größte Gruppe von Störungen in der Versorgung.

      Zur Abgrenzung vom Narzissmus auf niederem Strukturniveau

      Wie im vorangegangenen Kapitel dargestellt (image