Michael Ermann

Psychotherapie und Psychosomatik


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Symptomentstehung selbst ist dabei als eine Art Hilfsabwehr zu verstehen (image Übersicht). Sie hat den Sinn, das abgewehrte Erleben – Konflikt und begleitende Angst – von der bewussten Wahrnehmung fernzuhalten. So kann z. B. anstelle des unterdrückten Impulses, jemanden zu schlagen, durch Konversion eine Armlähmung auftreten. Durch Affektisolierung kann auch an die Stelle des Impulses eine Zwangshandlung oder durch Reaktionsbildung ein quälender Kontrollzwang oder durch Verschiebung und Verkehrung eine Phobie treten. Mit der Symptomentstehung wird der dahinterstehende aktuelle Impuls, Affekt oder Konflikt verdrängt.

      Klinische Manifestationen der neurotischen Persönlichkeitsorganisation

      • Psychische Störungen

      – Zwangsstörungen bei zwanghafter (oder hysterischer) Persönlichkeit (image Kap. 9.4)

      – Dissoziative Störungen bei hysterischer Persönlichkeit (image Kap. 9.5)

      – Angststörungen und Phobien bei hysterischer Persönlichkeit (image Kap. 9.3.2)

      – Depressive Störungen bei zwanghafter Persönlichkeit (image Kap. 9.2)

      • Somatoforme Störungen

      – Vornehmlich: »Klassische Konversionsneurosen« (image Kap. 10.2)

      • Persönlichkeitsstörungen

      – Hysterische Persönlichkeitsstörungen (image Kap. 8.2)

      – Zwangsneurotische Persönlichkeitsstörungen (image Kap. 9.4)

      Die Symptombildung ist das Ergebnis einer nicht optimalen Konfliktlösung139 (image Kap. 2.1.2), wenn eine Lösung im Außen oder eine optimale Lösung durch intrapsychische Veränderung nicht gefunden werden kann. Die übliche Verdrängung ist ausgeschlossen, weil die Kapazität der Abwehr durch das Zusammentreffen gleichartiger verdrängter und aktueller Konflikte ausgeschöpft ist. Deshalb wird ein anderer, allerdings ein ungünstiger Weg der Konfliktlösung gewählt: die »autoplastische« Anpassung unter Einbuße des Wohlbefindens, d. h. durch Bildung von Symptomen. Es handelt sich bei den klassischen neurotischen Symptomen also um eine Konfliktlösung mit einem nicht optimalen Ergebnis: Zwar kann das psychische Gleichgewicht gewahrt und die Verdrängung aufrechterhalten werden – der Preis aber ist die Beeinträchtigung des Wohlbefindens.

      Präödipale und ödipale Störungen

      Neurotische Störungen auf höherem Strukturniveau haben ihre Wurzel zumeist in der ödipalen Entwicklung. Aber auch Triangulierungskonflikte, die sich aus dem Übergang vom Autonomie- zum Ödipuskomplex herleiten, können durch regressive Prozesse in die Dynamik des höheren Strukturniveaus mit einbezogen werden. Demnach ist eine strikte Abgrenzung zwischen präödipalen und ödipalen Störungen bzw. zwischen dem höheren und dem mittleren Strukturniveau (image Tab. 4.6) bisweilen schwierig oder willkürlich.

      • Präödipale Störungen beruhen auf Triangulierungskonflikten (image Kap. 2.3.4), die aus Loslösungsaggressionen gegenüber der zentralen Bezugsperson (Mutter) und der Hinwendung zu einem dritten Objekt (Vater) entstehen.140 Die Triangulierungsprozesse prägen den Autonomiekomplex, der diese Entwicklung begleitet.141 Seine Themen sind Loslösung und Wiederbindung, Expansion und Selbstbehauptung. Sie entstammen der oral-aggressiven, analen und phallischen Triebentwicklung und sind mit Strebungen nach Geltung und Bewunderung verbunden. Sie werden von Schuldgefühlen und Angst vor Liebesverlust begleitet.

      • Ödipale Störungen beruhen auf sinnlich-libidinösen Konflikten der phallisch-narzisstischen Entwicklung und auf Fixierungen der hoch ambivalenten Beziehungsdynamik im Ödipuskomplex (image Kap. 2.3.5). Daneben spielen auch hier phallisch-narzisstische Geltungs- und Rivalitätskonflikte eine Rolle. Die zentrale Angst ist die Gewissensangst oder, wie Freud es provokativ nannte, die Kastrationsangst.

Images

      Die Persönlichkeit auf reifem Strukturniveau zeichnet sich durch die Fähigkeit zum Wohlbefinden und zum befriedigenden Leben mit anderen aus. Sie ist den Anforderungen des Lebens und den üblichen Belastungen, die der Alltag mit sich bringt, gewachsen. Menschen mit einer reifen Persönlichkeit sind also nicht dazu disponiert, unter Belastungen eine neurotische Störung zu entwickeln.

      Strukturelle Merkmale der reifen Persönlichkeit sind eine hinreichende Ichstärke, ein integriertes Selbst, integrierte Objekt- und Beziehungsrepräsentanzen und eine gut entwickelte Identität mit dem Gefühl der Kohäsion des Selbst.

      Aber auch reife Persönlichkeiten haben natürlich ihre Eigenarten. Diese prägen die Individualität und machen Menschen erst voneinander unterscheidbar. Dabei sind Persönlichkeitszüge und Grundeinstellungen gegenüber dem Leben und anderen Menschen das Ergebnis vielfältiger Einflüsse. Hier spielen Anlagefaktoren eine besondere Rolle.

      Doch erst die Überformung des ererbten Temperaments durch die Erziehung und andere Erfahrungen macht die spätere Persönlichkeit aus. Die überdauernden Eigenschaften eines Menschen, d. h. seine Persönlichkeit, sind letztlich Spuren seiner Entwicklung, die sich mit ihren Krisen und Konflikten in seine Konstitution eingegraben haben. Es sind dieselben Krisen und Konflikte, die auch die Entwicklung neurotischer Menschen prägen, und es sind dieselben Prozesse, z. B. Spaltung und Verdrängung, mit denen sie bewältigt werden.

      Der Unterschied besteht darin, dass Menschen mit reifen Persönlichkeiten bessere Bedingungen und Hilfen bei der Bewältigung dieser Krisen und Konflikte gehabt haben, sodass diese keine Wunden und viel geringere Spuren in der Persönlichkeit hinterlassen haben.

      Auch reife Persönlichkeiten wehren ab und tragen in ihrem Unbewussten verdrängte Erfahrungen und Konflikte mit sich. So ist der Unterschied zwischen neurotischer Persönlichkeit und nicht-neurotischer reifer Persönlichkeit kein grundsätzlicher, sondern ein gradueller.

      Man kann daher auch für reife Persönlichkeiten eine Typologie begründen,