der Störung erkennbar? Wie sind sie entstanden? Wie wirken sie sich aus? Besonders bedeutungsvoll für diese Beurteilung ist die psychodynamische Auswertung der Auslösesituation in Verbindung mit den psychogenetischen Daten der Biografie.
• Klärung der psychischen Struktur: Auf welchem Strukturniveau ist die Störung organisiert? Insbesondere: Handelt es sich vorrangig um eine Konflikt- oder um eine Entwicklungspathologie? Wenn eine Entwicklungspathologie angenommen wird: Welche strukturellen Defizite werden in den auslösenden und symptomverstärkenden Situationen deutlich? Wie äußern sie sich im Leben der Patienten? Welche Ursachen und welche Folgen haben sie z. B. in der Selbstregulation, in Partnerschaften, im beruflichen Kontext?
Das psychodiagnostische Interview schafft damit die Basis für eine psychodynamische Behandlung, in der man versucht, die Hintergründe einer Erkrankung zu verstehen. Darüber hinaus gehört zur psychotherapeutischen Fachdiagnostik die Klärung von Behandlungszielen und der generellen Behandlungsmotivation, die Indikationsstellung für ein geeignetes Behandlungsverfahren und die Prognosestellung.
Das psychodiagnostische Interview geht über die objektive Befund- und Datenerhebung und über die systematische Exploration hinaus und verwendet zwei Beobachtungsebenen als Informationsquelle: die Inhaltsebene und die Beziehungsebene .
• Die Inhaltsebene enthält die objektiven und subjektiven Informationen über Symptome, über den aktuellen Befund, die Vorgeschichte und die Folgen, über die persönliche, die aktuelle familiäre und die soziale Situation, über Lebensereignisse und die Lebensgeschichte, über Beziehungen und Erfahrungen. Sie schließt auch die präverbale Informationen mit ein, die sich als Befund aus dem Erscheinen und den beobachtbaren Eigenschaften ergeben.
• Die Beziehungsebene enthält szenische Informationen, die den Patienten meistens gar nicht bewusst sind. Als »szenisches Verstehen« 146 bezeichnet man die Betrachtung, wie eine Person den anderen in die Interaktion mit einbindet. Das geschieht z. B., wenn ein Patient einer Untersucherin so begegnet, als wäre sie seine Mutter. Solche Szenen entstehen unbewusst und eröffnen den Zugang zu Interaktionsmustern, die in der Psychodynamik eine zentrale Funktion haben.
Das szenische Verstehen ergibt sich aus dem Auftreten und insbesondere aus den Reaktionen, die das Auftreten in der Gegenübertragung auslöst. Darin zeigen sich unbewusste Selbstaspekte und Beziehungsrepräsentanzen. Sie sind ein Schlüssel für die Psychodynamik. Sie lassen sich zumeist auf die Frage zentrieren: Mit welcher Einstellung, mit welchen Hoffnungen, Erwartungen und Ängsten kommt ein Patient in die Untersuchung und wie erlebt er die Situation und den Untersucher? Was sagt sein Auftreten und die Art der Beziehungsmuster, nach denen er die Begegnung gestaltet? Was kann man daraus über seine innere Situation und speziell über die Psychodynamik und seine leitenden Repräsentanzen folgern? Mit welchem impliziten Anliegen kommt er?
Häufig enthält schon die Initialszene einer Begegnung wichtige Hinweise: Verschiebungen von Terminen, Zuspät- oder Zufrühkommen, betonte Sachlichkeit der Begrüßung u. v. a. können auf Ambivalenzen, Befürchtungen oder Hoffnungen hinweisen. Wie solche Szenen zu verstehen sind, erhellt sich dann oft aus der Lebensgeschichte oder dem aktuellen Lebenshintergrund. Auch im Verhalten eines Patienten, aus der Art seines Sprechens und aus dem assoziativen Verlauf des Gespräches können unbewusste Einstellungen erkennbar werden, im Falle des Vergessens z. B. die Ambivalenz gegenüber der Untersuchung.
Eindrucksvoll sind oft Inszenierungen in der Gesprächssituation. Sie können z. B. in der Auslassung einer bedeutsamen Beziehungserfahrung bestehen (»jemand draußen lassen«). Der Patient kann eine zunächst unbewusste, dazu passende Gegenübertragung erzeugen. Der Untersucher kann darin einerseits den im Hier und Jetzt wirksamen Konflikt des Patienten erkennen, andererseits Rückschlüsse auf die früheren Beziehungserfahrungen ziehen, die in solchen Inszenierungen dargestellt werden.
5.2.2 Die Methode des psychodiagnostischen Interviews
Das psychodiagnostische Interview ist ein halbstrukturiertes Untersuchungsgespräch, in dem zwei Techniken miteinander verbunden werden, um Informationen sowohl auf der Inhaltsebene als auch auf der Beziehungsebene zu sammeln: die Technik der biografischen Anamnese und die Technik des szenischen Interviews.
• Bei der biografischen Anamnese147 steht die systematische Befunderhebung im Vordergrund. Dabei greift der Untersucher mit gezielten, zumeist offenen Fragen in den Gesprächsverlauf ein. Er steuert das Gespräch so, dass er die wesentlichen Informationen erhält, die erforderlich sind, um die Erkrankung von der biologischen und psychologischen Seite her beurteilen zu können. Im Zentrum steht dabei die Ätiologie der Störung, d. h. die Frage, ob eine Störung seelisch bedingt ist, welche Konflikte und strukturellen Faktoren in der Auslösesituation in Erscheinung treten und ob als Disposition dafür eine spezifisch neurotische oder defiziente Fehlentwicklung erkennbar wird.
• Im szenischen Interview148 lässt der Untersucher dem Patienten möglichst viel Raum, um seine Situation darzustellen und der Inszenierung unbewusster Beziehungserfahrungen Platz zu geben. Er greift so wenig wie möglich mit strukturierenden Fragen in den Gesprächsverlauf ein und lässt es zu, dass die Situation sich spontan entwickelt. Im Zentrum steht hier die Psychodynamik, d. h. die Frage, welche unbewussten Erfahrungen im Patienten wirksam sind und in der aktuellen Gesprächssituation zum Tragen kommen.
In der Praxis beginnt die psychodiagnostische Untersuchung im Allgemeinen als szenisches Interview. Wenn sich eine relevant erscheinende Inszenierung eingestellt hat, rückt die gezieltere Klärung biografischer Zusammenhänge mehr und mehr in den Vordergrund. Oft werden ein oder zwei szenische Interviews durchgeführt, bevor in einem weiteren Gespräch eine biografische Anamnese erhoben wird. Bei der Auswertung werden die Daten und Befunde zusammengefügt. Daraus werden die Diagnose, die Indikation für das weitere Vorgehen und eine Behandlungsprognose abgeleitet. Mit zunehmender Erfahrung kann man das diagnostische Interview immer freier gestalten und sich vom Patienten zu seinen Themen hinführen lassen, ohne den Faden zu verlieren.
Das Ergebnis kann man im Protokollschema für die Untersuchung (
Protokollschema der psychodiagnostischen Interviews
• Vorgeschichte des Interviews
Zuweisung, Kontaktaufnahme, Vorinformationen
• Erscheinung und Auftreten
Konstitution und Selbstpräsentation, Mimik und Gestik, soziales Verhalten, Stimmungen, Affekte, Gehemmtheiten
• Untersuchungsanlass
Klagen, Beschwerden, bisheriger Verlauf, vorangegangene Untersuchungen und Behandlungen, bisherige Befunde
• Auslösesituation und aktuelle Lebenssituation
Unmittelbare Umstände und Rahmenbedingungen der Krankheitsentstehung, psycho-somato-soziale Gegebenheiten des bisherigen Verlaufs und der jetzigen persönlichen, familiären, beruflichen und wirtschaftlichen Situation
• Selbsterleben und Persönlichkeit
Selbstbild, Idealbild, Schwächen und Fähigkeiten, Erleben in Beziehungen, Aufgaben- und Problembewältigung, Liebes- und Leistungsfähigkeit, Belastbarkeit und Kränkbarkeit, Anerkennung und Geltung
• Psychische, körperliche und soziale Entwicklung
Prägende Beziehungen und Erfahrungen, Familienhintergrund, Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten im körperlichen, geistigen, seelischen, sexuellen, schulischen und Beziehungsbereich, traumatische Erlebnisse, Krankheiten, Bewältigung von Entwicklungskonflikten
• Auswertung
Psychodynamische Hypothese, klinische und psychodynamische Diagnose, Behandlungsmotivation und Erwartungen, Indikation und Differenzialindikation, Zielsetzung und