weil sie vorsprachlich sind und nicht erinnert werden können. Schlüsse ergeben sich aus groben Daten (neun Kinder, Geburt als das vorangegangene Geschwister kaum ein Jahr alt war …), aus familiären Konstellationen (Vater während der Schwangerschaft verschwunden …) oder aus psychosozialen Fakten (Zeugung kurz nach der Migration der Eltern, denen die mitteleuropäische Kultur und Sprache unbekannt waren …).
Besondere Bedeutung hat die Auslösesituation (
Die Interpretation der verschiedenen Daten unter neurosenpsychologischen Aspekten wird als psychodynamische Hypothese bezeichnet. Sie kann anfangs nicht mehr sein als eine Vermutung. Allerdings sollte sie so überzeugend sein, dass sie als Basis für die Behandlungseinleitung verwendet werden kann. Sie muss in der Behandlung überprüft und ggf. revidiert werden. Besonders überzeugend ist eine psychodynamische Hypothese, wenn sie auch die Übertragung und Gegenübertragung aus dem »szenischen Verstehen« des Interviews (
Dazu ein Beispiel: Herr A dekompensiert nach der Geburt seines Sohnes mit einer Herzneurose. In seiner Biografie finden wir im Alter von 18 Monaten die Geburt seines Bruders, der wegen einer Behinderung alle Aufmerksamkeit der Mutter auf sich zog. Der Vater entzog sich der Familie durch Affären. Man kann annehmen, dass eine unverarbeitete Neid- und Aggressionsproblematik durch die Geburt des Sohnes aktiviert wurde. Es besteht ein Konflikt zwischen infantilen Bedürfnissen und Affekten, die zur Manifestation der Herzneurose beigetragen hatten. Dazu passt auch die ambivalente Haltung zwischen Idealisierung (eine Stunde zu früh erscheinen) und Entwertung (den Folgetermin vergessen), die gegenüber dem Untersucher sichtbar wird.
Die Ätiologie und die Klärung des Strukturniveans
Die Auswertung des Interviews hat nach der Klärung der Psychodynamik die Aufgabe, die ätiologische Zuordnung zu klären und die Störung in das Spektrum der Psychopathologie einzuordnen. Diese Zuordnung ist an den ätiopathogenetischen Gruppen der psychogenen Störungen (
Bei den posttraumatischen und reaktiven Störungen sind der Anlass der Dekompensation in der Auslösesituation und damit die Klassifikation direkt erkennbar und müssen nicht psychodynamisch erschlossen werden. Bei der neurotischen Pathologie ergeben sich verschiedene Möglichkeiten (
Hinweise für die Diagnostik des Strukturniveaus
Reaktive und posttraumatische Pathologie
• Bei den posttraumatischen und reaktiven Störungen ist der Anlass der Dekompensation in der Auslösesituation direkt erkennbar.
• Sie müssen nicht psychodynamisch aus den Daten erschlossen werden.
Neurotische Konfliktpathologie (Höheres Strukturniveau)
• Der Patient kann sich und die anderen als getrennte Wesen und ganzheitlich erleben.
• In seiner Lebensbewältigung scheitert er immer wieder an repetitiven Beziehungs- und Verarbeitungsmustern, in denen unbewusste Motive und Bedürfnisse unterdrückt werden.
• Diese beruhen auf infantilen konflikthaften Beziehungserfahrungen, die in seiner Biografie erkennbar sind.
• Dabei greift er vornehmlich auf infantile Überzeugungen sowie auf Mechanismen der Verdrängungsabwehr zurück.
• In der Gegenübertragung spürt man »falsche Verknüpfungen« zwischen dem Beziehungsangebot des Patienten (Übertragung) und sich als realer Person.
Präödipale Neurosenpathologie (Mittleres Strukturniveau)
• Der Patient kann sich und die anderen zwar getrennt und ganzheitlich erleben, verwendet den Anderen aber vornehmlich zur Stabilisierung seines Selbst und Selbstwerts.
• In seiner Lebensbewältigung scheitert er immer wieder, wenn die Selbstobjekt-Funktion des Anderen versagt.
• Das Defizit in der Selbststeuerung beruht auf infantilen Beziehungserfahrungen, die in seiner Biografie fassbar und als unzureichende Unterstützung, Spiegelung und Bestätigung erkennbar sind.
• Dabei greift er vornehmlich auf die Mechanismen der Idealisierung und Entwertung zurück, die auch in der Gegenübertragung spürbar werden (der Therapeut als »letzte Hoffnung« …).
Entwicklungspathologie (Niederes Strukturniveau)
• In der Auslösesituation erkennt man strukturelle Einschränkungen, welche auf Defizite basaler Fähigkeiten und Ichfunktionen hinweisen.
• Sie verweisen auf eine unzureichende Selbst-Objekt-Differenzierung und die defizitäre Integration von Selbst- und Objektrepräsentanzen (Spaltungsabwehr).
• Sie bewirken, dass die Selbst- und Beziehungsregulation in der Auslösesituation nicht aufrechterhalten werden kann.
• In der Gegenübertragung fühlt der Therapeut sich als »Container« für unverarbeitete Affekte des Patienten (Angst, Aggression).
5.3 Psychotherapeutische Diagnosen
Die Formulierung von psychotherapeutischen Diagnosen ist uneinheitlich und manchmal auch unübersichtlich, weil sich darin lange Traditionen niedergeschlagen haben, in denen verschiedene diagnostische und nosologische Ansätze vermischt sind. Die psychoanalytisch orientierte Diagnostik konzentriert sich traditionell vornehmlich auf die Psychodynamik und das Strukturniveau der Persönlichkeitsorganisation. Durch die Verknüpfung mit der deskriptiven Ebene gelangt sie zu einem mehrdimensionalen Diagnoseschema. Es enthält
• auf der deskriptiven Ebene die Benennung des klinischen Syndroms,
• auf der ätiologischen Ebene die Diagnose der Persönlichkeit, ggf. ergänzt durch Angaben zum Anlass einer Störung, zum aktualisierten Konflikt und zu störungsrelevanten Strukturdefiziten,
• auf der strukturellen Ebene die Angabe des aktuellen Strukturniveaus.
5.3.1 Syndromdiagnosen
Die deskriptive Diagnose folgt der ICD. Sie beschreibt das klinische Syndrom unter Hervorhebung der Leitsymptomatik (
Klassifikation psychogener Störungen nach ICD-10
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