die Begleitumstände für die Pathogenität maßgeblich. So rufen unverarbeitete Katastrophenereignisse, Unfallerlebnisse, unerwartete Trennungen oder chronische berufliche und Partnerschaftskonflikte reaktive funktionelle und vegetative Störungen, Schmerzzustände oder ängstlich-depressive Verstimmungen hervor.
• Bei neurotischen Störungen, Psychosomatosen und bei den Folgen von frühen Traumatisierungen, an die keine Erinnerung besteht, kann die Krankheitsentstehung schwerer zu durchschauen sein. Hier spielen neurotische Dispositionen mit aktuellen Auslösefaktoren zusammen. Anlass der Krankheitsmanifestation sind meistens lebensübliche Ereignisse, die verdrängte Konflikte oder Traumaerinnerungen wachrufen oder latente strukturelle Defizite der Persönlichkeitsorganisation offenlegen.
Oft genug werden solche Auslöser in ihrer Bedeutung von den Patienten nicht erkannt oder nicht bemerkt. Man kann sie erschließen, wenn man sich einen Eindruck davon verschafft, welche Art von Belastungen sie aufgrund ihrer Entwicklung nicht bewältigen können. Dazu betrachtet man die lebensgeschichtliche Entwicklung und die Lebensereignisse, die zeitparallel zur Krankheitsentstehung aufgetreten sind (Auslösesituation). Entscheidend für die pathogene Wirksamkeit von Belastungssituationen ist das Kriterium, ob sie von den Betroffenen bewältigt werden können – und nicht, ob sie im Allgemeinen häufig oder selten vorkommen und insofern »normal« oder »nicht normal« sind.
5.1.2 Das Untersuchungsgespräch
Die Patientenuntersuchung ist eine Begegnung, in der Weichen für eine angemessene Behandlung gestellt werden. Sie erfordert Aufmerksamkeit, Geschick, Takt und Erfahrung. Es ist schwer, allgemeingültige Regeln für eine Untersuchung aufzustellen. Für die Gestaltung der Untersuchung sind besonders die Phänomene und Prozesse zu beachten, die unter dem Thema therapeutische Beziehung dargestellt wurden (
Die untenstehenden Punkte (
Anregungen für Untersuchungsgespräche
• Herstellung einer ungestörten, gesprächsfördernden Situation (Zeit, Raum, Ruhe und Geduld)
• Gleichrangige Beachtung der somatischen, psychischen und sozialen Aspekte der Störung, bis der Verdacht in Richtung einer bestimmten Ätiologie sich verdichtet (bio-psycho-sozialer Ansatz, Simultandiagnostik)
• Berücksichtigung der Krankheitsfolgen und -verarbeitung im persönlichen, familiären und beruflichen Bereich
• Beachtung der persönlichen Ressourcen und der Unterstützungsmöglichkeiten im sozialen Netz
• Verwendung offener Fragen und Anweisungen: »Wie fühlten Sie sich bei der Vorsorgeuntersuchung?«, statt: »Hatten Sie bei der Vorsorgeuntersuchung Angst?«
• Beachtung der Dynamik der therapeutischen Beziehung (
5.1.3 Die Überweisung zur Fachdiagnostik
Wenn die Krankheitsentstehung zeitlich mit einer psychosozialen Belastungssituation zusammentrifft, entsteht der Verdacht, dass seelische Krankheitsfaktoren an einer Störung beteiligt sind. Dann wird eine fachpsychotherapeutische Diagnostik angezeigt. Allerdings kann ein psychotherapeutisches diagnostisches Gespräch nur zum Ziele führen, wenn der Patient die Einstellung mitbringt, dass es notwendig ist und hilfreich für ihn sein kann. Ängste, Fehlerwartungen und Vorurteile stehen dem oft im Wege. Manche Patienten fühlen sich durch eine Überweisung abgeschoben, andere diskriminiert.
Es kommt hinzu, dass Patienten mit psychogenen Störungen die Verknüpfung der Symptomatik mit seelischen Faktoren häufig nicht nachvollziehen können, weil der Zusammenhang dem bewussten Erleben, krankheitsbedingt, nicht zugänglich ist: Da die Symptombildung auf der Basis einer Konfliktpathologie der Konfliktabwehr dient, wird die Konflikthaftigkeit der Auslösesituation nicht bewusst.
Ein erster Zugang zu einem psychosomatischen Krankheitsverständnis kann sich ergeben, wenn es im Gespräch gelingt, zusammen mit den Patienten Problembereiche ausfindig zu machen, die ihnen selbst einleuchten. Das gelingt umso leichter, je früher man während der Untersuchung die seelische, körperliche und soziale Untersuchungsebene im Sinne einer Simultandiagnostik144 miteinander verbindet. Das erfordert eine unvoreingenommene Haltung, bei der man auf Lebensprobleme behutsam eingeht.
Dieses Vorgehen erfordert Geduld, Takt und Einfühlung. Es bewährt sich nicht, gleichsam nach seelischen Hintergründen der Symptomatik zu fahnden oder eine solche frühzeitig anzusprechen. Es geht in diesen Gesprächen nicht darum, den Patienten möglichst rasch von der »Psychogenese« seiner Krankheit zu überzeugen. Viel wichtiger ist es, zunächst eine Vertrauensbasis herzustellen und erst auf dieser Basis auf ein Problembewusstsein hinzuarbeiten. Wenn das gelingt, ergibt es sich ganz natürlich, dass fachliche Grenzen des Hausarztes erreicht oder überschritten werden und eine Überweisung zum Psychotherapeuten nützlich und notwendig ist.
Die Fachdiagnostik dient der gezielten diagnostischen und differenzialdiagnostischen Klärung und stellt gegebenenfalls den ersten Schritt zur Behandlungseinleitung dar. Insofern ist sie bereits ein Bestandteil der Behandlung. Sie vermittelt einen ersten Kontakt und einen Eindruck, wie ein Psychotherapeut arbeitet, und kann im positiven Fall dazu motivieren, eine Behandlung in Anspruch zu nehmen.
Die Methode der Fachdiagnostik richtet sich nach der psychotherapeutischen Grundorientierung des Psychotherapeuten. Der methodische Ansatz kann psychoanalytisch begründet oder verhaltenstheoretisch orientiert sein.
5.2 Psychotherapeutische Fachdiagnostik
Die Fachdiagnostik wird hier unter dem Aspekt der psychoanalytisch orientierten Diagnostik behandelt. Sie betreibt die Klärung einer Erkrankung, indem sie die aktuelle Störung vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte, der maßgeblichen Beziehungen und der Auslösesituation betrachtet und daraus Annahmen über die Psychodynamik und psychische Struktur ableitet. Dabei berücksichtigt sie auch die aktuelle Beziehungsgestaltung in der Untersuchungssituation (die sog. Szene) unter dem Aspekt von Ängsten, Erwartungen und Übertragungen.
Das Ergebnis ist eine deskriptive und eine psychodynamisch-ätiologische Diagnose sowie ein Behandlungsplan mit Zielsetzung und prognostischer Einschätzung.
5.2.1 Das psychodiagnostische Interview
Die wichtigste Methode der psychodynamischen Diagnostik ist das psychodiagnostische Interview, das sich in verschiedenen Varianten in der psychoanalytischen Praxis entwickelt hat.145 Neben den eingangs erwähnten allgemeinen Aufgaben und Zielen einer jeden Diagnostik hat es die folgenden Aufgaben:
• Klärung des Syndroms: Welches Krankheitsbild besteht aus der deskriptiven Sicht? Handelt es sich um eine einfache oder um eine komplexe Störung im Sinne einer Komorbidität? Besteht eine akute Störung oder eine chronifizierte? Wie lässt sie sich auf der deskriptiven Ebene einordnen (Klassifikation z. B. nach ICD-10)?
• Klärung der Ätiologie: Sind überhaupt psychische Faktoren an der Entstehung einer Störung beteiligt? Wenn ja: Welche pathogenen Faktoren – ungelöste intrapsychische Konflikte, strukturelle Defizite, Traumaerfahrungen – kommen in der Störung zum Tragen?
• Klärung der Psychodynamik: Welche psychodynamischen