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Nation, Europa, Christenheit


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in Bezug auf das konkrete Verhalten einzelner Menschen. Nichts liegt ihm an einer wie auch immer gearteten Gestaltung der Gesellschaft, alles aber daran, dass der Einzelne Eingang ins Reich Gottes finde.

      Christus verpflichtet jeden Einzelnen zur tätigen Nächstenliebe. Das Ethische ist das Bewährungsfeld des christlichen Glaubens, nicht das Juristisch-Politische wie im Islam. Ein Christentum ohne karitatives Handeln ist nicht vorstellbar, zur Orthodoxie gehört notwendig die Orthopraxie. Dieser karitative Impetus muss von uns Christen mit neuem Ernst untersucht, begriffen und angewendet werden, ist er doch zu oft ein gefälliges Instrument für politischen Missbrauch, ein allzu oft benutztes Feigenblatt zur Rechtfertigung staatlicher Ein- und Übergriffe.

      Die karitativ tätige Nächstenliebe, die Christus von seiner Gefolgschaft fordert, ist sowohl von der natürlich-kreatürlichen Liebe zu unterscheiden als auch von der Art der Liebe, mit der die Geschwister des Glaubens einander begegnen sollen. Als Schüler des einen Meisters, Kinder des einen Vaters im Himmel, als mit dem Heil Beschenkte und mit dem Heiligen Geist Begabte bilden sie eine Raum und Zeit überspannende „Gemeinschaft der Heiligen“, die über jeder natürlich gegebenen Gemeinschaft steht.

      Das Johannesevangelium weist in immer neuen Anläufen auf die Liebesgemeinschaft des göttlichen Vaters mit dem Sohn Christus hin. Davon ausgehend verwendete der byzantinische Theologe Gregor von Nazianz den Begriff perichorese, um zu zeigen, dass die drei göttlichen Personen einander vollkommen durchdringen, beständig umeinander schwingen, ohne jedoch miteinander zu verschmelzen. Es ist eine höchst dynamische Beziehung des immerwährenden Einander-Zuwendens, ein schönes Gleichnis dafür ist – ob gewollt oder ungewollt – C. F. Meyers „Der römische Brunnen“:

       Aufsteigt der Strahl und fallend gießt

      Er voll der Marmorschale Rund,

       Die, sich verschleiernd, überfließt

       In einer zweiten Schale Grund;

      Die zweite gibt, sie wird zu reich,

      Der dritten wallend ihre Flut,

       Und jede nimmt und gibt zugleich

      Und strömt und ruht.

      Diese göttliche Liebesgemeinschaft will jedoch nicht für sich selbst bleiben, sondern öffnet sich, um der Gemeinschaft der Glaubenden Anteil an der überfließenden Liebe zu geben – um sie in die Liebesbeziehung aufzunehmen. Es ist ein mystisches Geschehen, das in immer neuen biblischen Bildern beschworen wird – mal ist vom „Wasser des Lebens“ die Rede, mal von der „Hochzeit“ zwischen dem Gemahl Christus und seiner Braut, der Gemeinde. Diese Liebe kann kaum erklärt werden, sie wird gepriesen und besungen wie z. B. im bekannten „Hohelied der Liebe“ des Apostels Paulus.

      Rational stößt man dabei an seine Grenzen, denn diese Liebe ist metaphysisch und zugleich hochgradig exklusiv. Sie gilt der Gemeinschaft der Glaubenden, nicht aller Welt – sie diskriminiert, obwohl sie sich doch gleichzeitig an jeden richtet. Gott liebt zwar jeden Menschen, dennoch liebt er sie nicht alle gleich. Manchen gibt er den Vorzug vor anderen: „Jakob habe ich geliebt, Esau aber habe ich gehasst“, lässt Gott durch den Propheten ausrichten (Mal 1,3); der exakte Wortsinn meint: den einen bevorzugen, den anderen benachteiligen. Ähnlich Christus, wenn er sagt: „Viele sind berufen, wenige sind auserwählt.“ (Mt 22,14) Und obwohl Gott alle Völker geschaffen hat und liebt, hat er nur ein Volk auserwählt, in dem seine Liebe zur Gestalt wurde.

      Dieser Widerspruch der göttlichen Liebe lässt sich nicht auflösen. Er bewegt sich zwischen den beiden Polen der Allversöhnung und der Prädestination. Jeder dieser beiden Pole ist für sich und absolut genommen eine Häresie, beide sind in ihrer Polarität notwendige theologische Gedanken: Der Gedanke der Allversöhnung bewahrt die göttliche Liebe davor, zum Instrument der Selbstbestätigung einer wie auch immer definierten Gruppe herabzusinken. Der Gedanke der Prädestination bewahrt sie davor, zur Sentimentalität zu werden: Der Heilige kann keine Gemeinschaft mit der Sünde haben!

      Kein Mensch, auch kein Christ, kann oder soll alle anderen gleichermaßen lieben. Der Aufruf „Seid umschlungen, Millionen“ ist Selbstbetrug und Augenwischerei – wer alle gleichermaßen zu lieben vorgibt, kann am Ende keinen echten Menschen mehr wahrhaftig, aufrichtig und brüderlich lieben. Er wird um der abstrakten Liebe aller willen dem Einzelnen die konkrete Liebe versagen müssen. Lieben sollen wir die Geschwister des Glaubens auf die eine Art, die Familie und das eigene Volk auf eine andere Art, den Hilfsbedürftigen wiederum auf eine andere Art. Für die Gemeinschaft der Glaubenden gilt, dass einer den anderen höher achte als sich selbst (Mt 23,11; Phil 2,3). Für die Nächsten aus Familie und Volk gilt, sie zu lieben wie sich selbst (Mk 12,31). Die karitative Nächstenliebe wiederum ist weder mystischen noch natürlichen Ursprungs, sie ist Orthopraxie: konkrete Hilfsmaßnahmen für konkrete Hilfsbedürftige. Dies und nichts anderes ist im Begriff der „Barmherzigkeit“ beschlossen.

      Christus fordert nirgends zu einer Jedermannsliebe auf. Die Nächstenliebe, die er fordert, illustriert er am Beispiel des „barmherzigen Samariters“ (Luk 10,25–37).

      Im kirchlichen Mainstream wird das Opfer der Räuber als zeit- und ortloser Mensch gesehen, als „Mensch an sich“, als x-beliebiger „Jedermann“, und daraus resultierend richtet sich der übliche kirchliche Appell zur Nächstenliebe üblicherweise auch nicht auf konkrete Personen, sondern auf irgendwelche Personen, vornehmlich die Fremden und Fernen, die eben keine konkreten Leute sind, weil man sie nicht kennt, keine Landsmänner und Volksgeschwister, sondern abstrakte „Menschen“. So verliert dieses Gleichnis allerdings einen großen Teil seines Sinns, denn das Opfer der Räuber ist Jude, und zwei Juden lassen ihn liegen. Das Gleichnis entfaltet seine volle Bedeutung erst, wenn man den natürlich-kreatürlichen Zusammenhang des Volkes mitbedenkt, aus dem sich die selbstverständliche Pflicht zur Solidarität mit dem Opfer ergibt. Im Gleichnis selbst wird das nicht eigens thematisiert, weil es zu seiner von allen damaligen Hörern anerkannten Voraussetzung gehört. Die unausgesprochene Kritik, die Christus vorbringt, zielt nicht etwa darauf ab, dass hartherzige und hasserfüllte Menschen einen Hilfsbedürftigen ignorieren (das wäre die „gutmenschliche“ Lesart), sondern dass Juden einen Juden, einen Angehörigen ihres eigenen Volkes, ignorieren, dem sie doch nach dem Sittengesetz zur Solidarität verpflichtet sind, eben weil sie wie er zum jüdischen Volk gehören. Erst unter dieser Voraussetzung entfaltet dann auch die überraschende Wende ihren vollen Sinn: Der Samariter gehört nicht zum jüdischen Volk und ist dem jüdischen Opfer nicht zur Solidarität verpflichtet, dennoch tut er es und wird dadurch zum ethischen Vorbild.

      Christus thematisiert an diesem Beispiel Regel und Ausnahme. An anderer Stelle führt er aus: „Wenn ihr nur die liebt, die euch auch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Denn auch die Sünder lieben, welche sie lieben. Und wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr dafür? Das tun die Sünder auch.“ (Luk 6,32.33) D. h.: Christus erkennt die natürliche Liebe an, die einen Menschen mit den Seinen verbindet. Es ist eine schöpfungsgemäße Liebe, die allen Menschen eigen ist: die Regel. Christus schafft oder wertet sie nun keinesfalls ab, aber er erweitert sie um die Ausnahme. Von seinen Jüngern erwartet er mehr.