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Nation, Europa, Christenheit


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Kritiker der Migrationspolitik schütteln konsterniert den Kopf, reden von „Verblendung“, „Blase“, „Schlafschafen“. Die geballte Macht der Medien mag einen Teil des Phänomens erklären, aber das ist noch nicht alles. Die Frage ist, warum das im ARD-Manual empfohlene Framing überhaupt funktioniert, warum die moralische Rahmung politischer Entscheidungen eine Entwicklung zur politischen Alternativlosigkeit ermöglichen konnte. Diese Frage ist nicht nur von Bedeutung für die Analyse der aktuellen politischen Großwetterlage, sondern für die Art und Weise der künftigen politischen Kommunikation überhaupt.

      Genau diese mangelnde Unterscheidung (oder auch bewusste Vermischung) ist aber der Grund für die Wirksamkeit des Framings. Moralische Begriffe sind Begriffe der Mikroordnung, der kleinen Gruppe. Neben der „Nächstenliebe“ und der „Barmherzigkeit“ werden „Empathie“, „(Mit-)Menschlichkeit“ und „Zuwendung“ aufgerufen (und das auch noch zu „Leidenden“, „Verfolgten“ oder „Flüchtenden“, wie Migranten fälschlicherweise pauschal bezeichnet werden), und wir springen unwillkürlich, automatisch darauf an: Es ist die Terminologie des sozialen Nahraums, der uns im Blut liegt, von dem wir nie wegkommen, der uns selbstverständlich ist.

      Wir tragen sozusagen eine Brille, die selbst globale Phänomene auf den Nahraum herunterbricht. Wir können uns die Zahlen der Menschen nicht plastisch vorstellen, die schon unterwegs sind oder bereits auf gepackten Koffern sitzen. Wir können uns die Komplexität der Abläufe nicht ausmalen, und wir haben keine Ahnung vom Ausmaß der Geschäfte, die im Hintergrund getätigt werden. Der grundlegende menschliche Impuls angesichts solcher Phänomene ist die Einpassung in ein emotionales Narrativ, und dieser Impuls wird durch das Framing aufgenommen und verstärkt. Wir werden beispielsweise ermahnt, nicht „Menschenmassen“ zu sehen, sondern „Einzelschicksale“ – dabei sehen wir von vornherein die Einzelschicksale, weil wir nur diese emotional überhaupt einordnen können: Schicksale wie das von Alan Kurdi oder Reem Sahwil, wie sie uns in den Medien präsentiert werden, oder auch die Schicksale derjenigen, die wir persönlich kennenlernen. Diese Menschen werden für uns zu den „Gesichtern“ der Massenmigration; wir sehen sie und identifizieren sie mit dem Gesamtphänomen, weil wir das Gesamtphänomen gar nicht überblicken können. Und man müsste wirklich ein Unmensch sein, wenn diese Einzelschicksale einen nicht berühren würden. Aber um das Gesamtphänomen der gegenwärtigen Migrationsbewegung beurteilen und Schlussfolgerungen für politisches Handeln daraus ziehen zu können, muss man fähig sein, Distanz zum sozialen Nahraum und damit zu diesen Einzelschicksalen einzunehmen.

      „Liebe“ und „Hass“ sind persönliche Gefühle, ihnen kommt bei einer politischen Bewertung keinerlei Bedeutung zu, und ebenso wenig spielen dabei „Nächstenliebe“ und „Barmherzigkeit“ eine Rolle. Man kann kollektivethische Fragen nicht individualethisch beantworten. Politiker müssen zwangsläufig die Perspektive des sozialen Nahraums verlassen und die erweiterte Ordnung in den Blick nehmen. Selbstverständlich leben auch sie in einem sozialen Nahraum, und selbstverständlich ist es ein lobenswertes und vorbildliches Verhalten, wenn sie in diesem Nahraum beispielsweise verfolgten Menschen Zuflucht gewähren. Aber das lässt sich eben nicht kongruent auf die erweiterte Ordnung des Staates übertragen. Hier ist anders zu verfahren als in der Mikroordnung, wenn man denn sein Fortbestehen und Funktionieren gewährleisten will.

       II.

      Die Ethik Christi ist Ethik des sozialen Nahraums. Sie ist vornehmlich Jüngerethik. Sie ist vornehmlich Individualethik. Sie bleibt auch da auf den Nahraum bezogen, wo sie zur Ethik der christlichen Gemeinde und damit Kollektivethik wird.

      Es ist für das moderne Bewusstsein wohl einer der größten Steine des Anstoßes, dass Christus in Bezug auf die „Gesellschaft“ so indifferent ist. Auch die heutigen Christen selbst kommen häufig nicht damit zurecht und tragen politische Prämissen in Zusammenhänge hinein, in denen sie ursprünglich keinerlei Rolle spielten. Christus äußert sich nie politisch, die erweiterte Ordnung ist ihm gleichgültig – weder verteidigt er sie noch greift er sie an. Christus lebt und denkt aus der Perspektive der Ewigkeit Gottes. Was er zu irdischen Ordnungen zu sagen hat, kommt über ein paar Allgemeinplätze nicht hinaus und fungiert meist nur als Beispiel oder Aufhänger („Die als Herrscher gelten,