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Nation, Europa, Christenheit


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„Eine direkte allgemeine ‚Nächsten‘- und Bruder- oder auch Fernsten- und Negerliebe ist nicht gemeint.“12 Im Gegenteil, die Fernstenliebe kann unter Umständen gerade zum Gegenteil dessen werden, was Christus fordert: Man kann durchs Moralteleskop die Armen Afrikas betrachten und sie wortreich bedauern, während man wegschaut und beredt schweigt, wenn beispielsweise zwei Straßenecken weiter Pflastersteine die Fenster einer Wohnung von „Rechten“ entglasen oder vor der eigenen Haustür türkische Schüler eine „Kartoffel“ mobben. Das mag nicht einem jeden ins Konzept passen, das er sich von „Nächstenliebe und Barmherzigkeit“ gemacht hat, aber es ist die gleiche Situation des barmherzigen Samariters, es ist der gleiche stumme Anruf eines geschädigten Nächsten um Beistand, und darum kann man sich auch mit Spenden für „Brot für die Welt“ nicht herummogeln.

      Die Ausnahme heißt: demjenigen Hilfe gewähren, der einem „vor die Füße fällt“ (wie im Gleichnis vom barmherzigen Samariter) oder einem „im Weg liegt“ (wie im Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus) – und zwar ganz unabhängig davon, ob dies ein Mensch ist, der von Natur aus mein Nächster ist, ob er mit mir politisch übereinstimmt oder ob er sonst etwas mit mir gemein hat. Ist er nicht von Natur aus mein Nächster, so ist er es doch im sozialen Nahraum, und er wird zu meinem Nächsten, indem ich mich zu seinem Nächsten mache und ihn als meinen Nächsten annehme.

      In der Verkündigung des kirchlichen Mainstreams wird diese Ausnahme häufig zur Regel gemacht, indem das Gleichnis z. B. instrumentalisiert wird, um zur Flüchtlingshilfe aufzurufen, während die Regel jedoch völlig außer Acht gelassen wird. Der Gedanke, dass das Sittengesetz Volksgeschwister einander zu einer schöpfungsgemäßen, allgemein menschlichen Solidarität verpflichtet, wird komplett verdrängt. Stattdessen metaphorisiert man die Metapher und spricht vielleicht von den armen und kranken Lazarussen, die vor der Haustür des reichen Europa lägen und nur die Brosamen von unseren Tischen begehrten. Man vertauscht damit nicht nur Regel und Ausnahme, sondern wiederum den sozialen Nahraum mit dem Großraum – erinnern wir uns an Hayek: Man kann nicht die Regeln vom einen auf den anderen übertragen, ohne in beiden Schaden anzurichten. Lazarus bleibt der eine, konkrete Mensch, der in unserem Weg liegt; das Opfer der Räuber bleibt der eine, konkrete Mensch, der uns vor die Füße fällt; und auch der Bettler des Sankt Martin bleibt der eine, konkrete Mensch, der uns um etwas bittet – sie alle lassen sich nicht in namenlose, gesichtslose Menschenmassen jenseits unseres Nahraums transzendieren, ohne den Sinn der Lehre Christi zu entstellen und zu verkehren.

      Die Ethik des Totalaltruismus ist nicht praktikabel und führt daher lediglich zu sterilen, frucht- und folgenlosen Zustimmungsritualen. Sie ist weder christlich noch vernünftig, deshalb muss sie wieder heruntergebrochen werden auf eine Ethik des sozialen Nahraums, in dem jeder Einzelne echte karitative Wirkung entfalten kann.

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      Das moralische Framing der Begriffe „Nächstenliebe“ und „Barmherzigkeit“ kommt einem Umschmieden von „Pflugscharen zu Schwertern“ (Joel 4,10) gleich – zu Schwertern für den politischen Kampf. Bezeichnen diese Begriffe im eigentlichen, christlichen Sinn Gebote des Herrn, die jeder Einzelne für sich anzunehmen, zu befolgen und in seinem Nahraum umzusetzen hat – wohl wissend, dass er nie je genügend geliebt haben oder nie je barmherzig genug gewesen sein wird, dass er sie also immer wieder von Neuem anzunehmen, zu befolgen und umzusetzen hat; wohl wissend auch, dass seine Rechtfertigung als Mensch allein in seinem Glauben an Christus liegt und nicht in seiner Leistung bei der Verwirklichung des Gebotenen –, so werden sie zunehmend durch eine vereinte Front von Leuten vereinnahmt, die sie für ihre politische Meinung und moralische Haltung in Anspruch nehmen und die, unabhängig davon, ob sie das Gebotene auch persönlich verwirklichen, sich damit selbst rechtfertigen und über die anderen mit einer anderen Meinung und Haltung zu Urteil sitzen. Um es in reformatorischer Terminologie zu formulieren: die „Werkgerechtigkeit“ hat die „Gerechtigkeit aus Gnade“ ersetzt. (Katholiken mögen es anders ausdrücken, aber sie dürften dem Sinn der Sache zustimmen.) Damit betrifft die Frage nach „Nächstenliebe“ und „Barmherzigkeit“ aber den Kern des christlichen Glaubens. Die Umdeutung der Begriffe führt zu einer Umwälzung der Ethik, und diese führt dazu, dass der christliche Glaube insgesamt per-vertiert, d.h. in sein Gegensteil verkehrt wird.

      Nach reformatorischer Auffassung hat die christliche Gemeinde das Recht und die Pflicht, die Lehre der Hirten zu prüfen und zu beurteilen, ob diese Lehre der biblischen Lehre entspricht. Sollte dies nicht der Fall sein, muss die Gemeinde ihrem Hirten widersprechen, ihn auf seinen Irrtum aufmerksam machen bzw. seine Abkehr von der biblischen Lehre kritisieren: Dies ist ihre Verantwortung um derer willen, die durch falsche Lehren irregeführt werden als auch um dessentwillen, der falsche Lehren verbreitet, damit er Gelegenheit zur Korrektur erhalte. In Bezug auf die Lehre von „Nächstenliebe“ und „Barmherzigkeit“ sehen wir, wie Begriffe von ihrem Ursprung entfernt, missbraucht und mit wesensfremden Inhalten aufgeladen werden. All jene, die, wie Luther sagte, „mit Ernst Christen“ sein wollen, seien deshalb hiermit dazu aufgerufen, ihre Verantwortung wahrzunehmen und das kritische Gespräch mit Pfarrern, Lehrern und Leitern zu suchen.

       Literatur

      Barth, Karl: Der Römerbrief, neue Bearb., 7. Aufl., Zürich 1940.

      Bernays, Edward: Propaganda. Die Kunst der Public Relations, Freiburg i. Br. 2007.

      Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, 12. Aufl., München 1988.

      Dirsch, Felix, Münz, Volker u. Wawerka, Thomas (Hg.): Rechtes Christentum? Der Glaube im Spannungsfeld von nationaler Identität, Populismus und Humanitätsgedanken, Graz 2018.

      Hayek, Friedrich August von: Die verhängnisvolle Anmaßung. Die Irrtümer des Sozialismus, Tübingen 1996.

      Luther, Martin (a): An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, Stuttgart u. Weimar 2003.

      Ders. (b): Frühe Schriften und reformatorische Hauptschriften, Weimar 2003.

      Mohler, Armin: Gegen die Liberalen, Schnellroda 2010.

      Schneier, Bruce: Die Kunst des Vertrauens, Heidelberg u. a. 2012.

       Anmerkungen

      1Zit. n. Alexander Wendt: „Sie werden geframt: von Ihrer ARD“, publicomag.com vom 18. Februar 2019.

      2Bernays: 10.

      3Vgl. meinen Aufsatz „Christ sein und rechts sein“ in Dirsch, Münz u.Wawerka 2018: 173–189, insbes. 181 ff.

      4Bonhoeffer 1988: 19.

      5Mohler