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Nation, Europa, Christenheit


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       Von Thomas Wawerka

       I.

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      Moral, der Wille zum Gutsein, ist eine höchst ambivalente Angelegenheit. Auf der einen Seite ein innerer Kompass des Denkens, Redens, Handelns, die Stimme des sokratischen daimonion, die Stimme des Gewissens, Ausdruck der Freiheit, Ausweis des Menschseins, indem der Mensch sich übers „Reich der Notwendigkeit“ erhebt und der Welt, besonders der Welt seiner Mitmenschen, der sozialen Welt, kreativproduktiv gegenübertritt. Auf der anderen Seite vielleicht bloße Umweltresonanz, Konditionierung durch die Gesellschaft, ein passives Sich-formen-Lassen, Sich-Gleichmachen, Anpassen an Erwartungen, Nachsprechen und Nachmachen des Gegebenen. Im schlechtesten Falle – wie im Fall des ARD-Framing-Manuals – jedoch ein Mittel zu Zwecken im Werkzeugkasten von Sophisten, Faktor in einer Kosten-Nutzen-Rechnung, kalte Klinge des Sozialtechnikers, Brennholz für den Propagandisten. Und oft ist das eine vom anderen schwer oder kaum noch zu unterscheiden, allzu oft tritt das eine in der Maske des anderen auf oder sind die Aspekte unentwirrbar eng miteinander und ineinander verknäult. Und jeder einzelne Aspekt für sich genommen ist ambivalent.

      Moral will sich äußern. Moral will gestalten. Moral will verändern, auf die eine oder andere Weise.

      Dennoch, zur Verwunderung vieler Nichtchristen und mittlerweile wohl auch vieler Christen ist Moral nicht das Leitthema des christlichen Glaubens. Es bedeutet, den christlichen Glauben empfindlich zu beschneiden, ja ihn zu verstümmeln, wenn man ihn als Regularium zur Besserung des Menschseins auffasst. Der christliche Glaube kann und muss mitunter sogar amoralisch sein. Das betrifft nicht nur die Konfrontation mit einer aus christlicher Perspektive falschen oder unzureichenden Moralität, wie es beispielsweise in der Konfrontation Christi mit den Pharisäern deutlich wird, wie es auch in der Konfrontation des Paulus mit „denen, die sich selber rühmen“ deutlich wird, sondern die Aufhebung des sozialen Urteils anhand einer Gut-böse-Bruchlinie überhaupt.

      Die Polarität von „gut und böse“, die sich in jedweder Moral ausdrückt, scheint zum Grundbestand des Menschseins zu gehören, näherhin zur Grundverfassung des Menschen als sozialem Wesen. Für Robinson hatte Moral jenseits erlernter Konventionen auf seiner Insel keinerlei Raum, bis Freitag kam. Moralität ist eine Folge der Sozialität. Durch die Begegnung mit dem Anderen kam es für Robinson zur moralischen Situation: Sollte er ihn vor den Kannibalen retten? Sollte er ihn den Kannibalen ausliefern? Sollte er ihn und die Kannibalen ignorieren? Und apropos Kannibalen: Wie sollte er sich denen gegenüber verhalten? Was ist in dieser Situation gutes, was ist böses Handeln? Die moralische Situation ist eine Entscheidungssituation.

      Vor der Heraufkunft des christlichen Abendlandes war diese Entscheidungssituation bzw. die Bruchlinie durch die Sitten der Väter definiert. Die Bedingungen des Zusammenlebens sind in der kahlen, kühlen Bergwelt andere als im schönsten Wiesengrunde, sie sind im ewigen Eis andere als in der ewigen Wüste. Man müsste meinen, die Art und Weise des Zusammenlebens und folglich das, was „gut“ und „böse“ genannt wird, müsse sich den natürlichen Gegebenheiten ebenso optimal anpassen wie jeder einzelne Mensch durch die Art und Weise seiner Kleidung, Ernährung, Behausung, aber so ist es nicht. „Gut“ war durchaus nicht immer das, was das gute Leben förderte – und so ist es bis heute. Moral drückt sich oft gerade als Gegenteil des Wohllebens aus: als Einschränkung, als Verzicht, als Opfer bis hin zum Martyrium. Dahinter verbirgt sich auch keine „Do-ut-des“-Berechnung, nach der ein Opfer nützlich sein kann, wenn es mir beispielsweise jemanden zur Dankbarkeit verpflichtet, wenn ich bei jemandem etwas „guthabe“, jedenfalls nicht ausschließlich. Das Gute, dem man durch die Moral zu entsprechen versucht, ist originär metaphysischer Natur. Antigone muss ihren getöteten Bruder Polyneikes bestatten, auch wenn es nur symbolisch durch eine Handvoll Erde geschieht. Der innere Ruf, ja der Zwang zu dieser moralischen Handlung ist stärker als das Gesetz des Königs und als jedweder denkbare Nutzen. Antigone kann für ihre moralische Handlung nichts anderes erwarten als den eigenen Tod. Auch sonst hat niemand einen Nutzen davon.

      Moral ist eine Macht, und wer die Macht über die Moral hat, hat größere Macht als der, der wie Kreon die Macht über Leben und Tod hat.

      In der zweiten Epoche der europäischen Moralgeschichte war die Entscheidungssituation bzw. die Bruchlinie christlich definiert. Mehr als tausend Jahre lang bestimmte die Lehre der Kirche, was „gut“ und was „böse“ war. In der aktuellen dritten Epoche sind es die „Werte“, die sich aus dem Kondensat der philosophischen Diskussion ergeben, die mit der Aufklärung begonnen hat und deren letzte Aktualisierung die Frankfurter Schule darstellt: Ideen, die sich in Schlagworten wie „Menschenwürde“ oder „Menschenrechte“ äußern, „Demokratie“, „Gerechtigkeit“, „Solidarität“, „Gleichheit“. Dabei will man säkular sein, bedient sich aber reichhaltig und durchaus eklektisch aus dem spirituellen Schatz, der in der vorangegangenen Epoche angespart wurde, verleiht er doch dem Menschlich-Allzumenschlichen höhere Weihen. Besonders beliebt ist die Beschwörung der christlichen Begriffe – und hier sind sie nun endlich – „Nächstenliebe“ und „Barmherzigkeit“.

      Ausgerüstet mit dem Erntestock klopft man die Krone des alten Baumes ab, ob vielleicht doch noch ein paar brauchbare Oliven herabfallen mögen.

      Man entfremdet die Begriffe von ihrem christlichen Ursprung. Man verändert sie damit. Sind sie erst einmal im Sprachsalat des modernen Humanitarismus gelandet, gehen sie ihres Sinns und ihrer Würde verlustig. Ein letzter Schimmer ist schon noch vorhanden, ein Nachgeschmack des Eigentlichen (sonst wären sie ja nicht zu gebrauchen), doch wie wenig hat das, was man nun vollmundig verbreitet, mit dem zu tun, was eigentlich nur nachgebetet werden kann! – Aber so funktioniert es. Das ist Framing.

      Framing ist nicht generell verwerflich. Es bedeutet einfach: etwas in einen Bezugsrahmen einordnen. Das tun wir alle. Es ist auch nicht unbedingt als politisches Instrument verwerflich. Die nachständische bürgerliche Gesellschaft ist Massengesellschaft, und die Masse muss irgendwie in irgendeiner Form gehalten werden. Natürlich geht man vom Idealbild des mündigen Bürgers und der demokratischen Verfassung aus, aber wie jedes Ideal ist auch dieses nur bedingt praktikabel oder alltagstauglich. Die bürgerlichen Institutionen, die bisher dem Einzelnen und damit der Gesellschaft insgesamt Form gaben, die Orientierung und Ordnung vermittelten – Schule, Kirche und Heer –, verlieren unter dem Diktat der Liberalisierung und der politischen Gleichschaltung zunehmend ihre Prägekraft. Auf die Liberalisierung folgt Banalisierung. Man kann die Masse auch durch Gewalt und Gulag lenken, wenn man das aber nicht will, ist man auf die Mittel der Psychologie angewiesen. Edward Bernays eröffnet sein 1928 erschienenes Buch „Propaganda“ mit den Worten: