finden wir entsprechende Akzente. Schon die ungarische Verfassung von 2011 gibt die neue Grundausrichtung vor. In der Präambel heißt es: „Gott segne die Ungarn!“ Anhänger der linksliberalen Eliten, besonders in den Medien, schienen beim Blick auf dieses Gesetzeswerk wie vom Blitz getroffen. Im britischen „Guardian“ stellte ein Journalist fest, die Verfassung atme christlichen Geist und stelle einen neuen Wertekanon auf:31 Familie, Nation, Treue, Glaube und Liebe stünden im Fokus. Familie und Nation würden als Fundamente des Zusammenlebens begriffen. Besonders stieß den Linksliberalen in Europa das Bekenntnis zum „heranwachsenden Leben“ auf, das „ab dem Zeitpunkt der Empfängnis zu schützen“ sei, weiter das Verständnis von Ehe als Verbindung von Mann und Frau. Hier zeigt sich ein offiziell abgesegneter und partiell ins Recht transformierter Wertekatalog, dessen Inhalte man in Mittel- und Westeuropa nicht selten mit der Gesinnung „rechter Christen“ identifiziert.
Weitere Überlegungen zu Orbáns oben erwähnten Ausführungen finden sich in seiner politischen Umgebung. So verwies György Schöpflin, zeitweise Mitglied im EU-Parlament und aktiv in der Regierungspartei Fidesz, auf einige kulturelle Bruchlinien in der EU.32 Östliche Länder wie Ungarn seien lange Zeit Teile von Großimperien gewesen, welche die Modernisierung von Staat und Gesellschaft nicht selten unterdrückt hätten. Nach dem Niedergang dieser Mächte hätten autoritäre Lösungen oft als unvermeidlich gegolten. Diese kamen sowohl von nationalistischer Seite – das Regime des Reichsverwesers Miklós Horthy war eine Zeit lang mit dem Nationalsozialismus verbunden – wie auch von kommunistischer. Solche Formen von Kolonialisierung durch fremde Mächte, die bis 1989 das Schicksal Ungarns bestimmten, hinterließen Spuren im Geschichtsgedächtnis dieser Nation. Viele Bewohner haben noch die Unterdrückung erlebt oder kennen sie zumindest vom Hörensagen. Sie sind durchaus sensibel für die Gefahren äußerer Oktrois. Heute werden diese stark mit „Brüssel“ identifiziert. Jedenfalls blieb Ethnizität ein zentraler Anknüpfungspunkt zur Bewahrung der eigenen Identität.
Besonders auch in Polen ließ sich der ethnische Faktor nicht von religiösen Hintergründen trennen. Widerstände gegen die kolonialisierende Dimension der liberalen Demokratie sind auch in der katholischkonservativen Publizistik dieses Landes immer wieder Thema. Einer ihrer führenden Vertreter, der Krakauer Philosoph Ryszard Legutko, einige Jahre Abgeordneter im EU-Parlament, konstatiert in seinem Buch „Der Dämon der Demokratie“ einen totalitären Grundzug im realen westlichen Liberalismus der unmittelbaren Gegenwart.33 Legutko umschreibt die „erstickende Zudringlichkeit“ in diesem Modell folgendermaßen: Jede scheinbar siegreiche politische Formation, die sich am „Ende der Geschichte“ (Fukuyama) wähnt, neige zu Arroganz und Verabsolutierung. Legutko erwähnt den ersichtlichen Willen, Ehe, Familie, Gemeinschaftsleben, Sprache und Sexualität zu regulieren. Als Stichworte hierzu seien lediglich Gender-Mainstreaming und der Hang zur politischen Korrektheit angeführt. Auffallend sei der jakobinische Gleichheitsfuror, der alle Teile der Gesellschaft durchdringe. Weiter stellt Legutko völlig zu Recht fest, dass in etlichen EU-Staaten eine Inflation von Ansprüchen zu beobachten sei. Ihnen stünden jedoch keinerlei (oder kaum) Verpflichtungen gegenüber. Dieser Trend könne das Gemeinwesen nur schädigen.
Wesentlicher Hintergrund der von Orbán vorgenommenen Zuordnung, die das linke und liberale Establishment zutiefst verstört, ist der indirekte Bezug auf das abendländische Geschichtsgedächtnis. In Ungarn ist dieser Grundzug aufgrund der geschichtlichen Erfahrung des Landes und der vergleichsweise größeren Bedeutung dessen, was man „Kollektividentität“ nennen könnte34, deutlich stärker gegenwärtig als in anderen Teilen der EU. Ein nicht geringer Teil abendländischer Identität liegt in ihrer abgrenzenden Natur vor allem gegen islamistische Invasoren; herausragenden Stellenwert besitzen daher Orte wie Tours und Portiers, Lepanto oder Wien. Im Zeitalter verstärkter weltweiter Kulturkämpfe ist eine solche Diagnose nicht überraschend. Freilich findet sie in der Publizistik und im wissenschaftlichen Schrifttum hierzulande vergleichsweise wenige Befürworter, anders als Großunternehmen, welche die Weltlage eher verharmlosen, wie das im Freimaurergedankengut wurzelnde „Projekt Weltethos“35, das vor über einem Vierteljahrhundert von dem Tübinger Theologen Hans Küng initiiert worden ist und inzwischen viele Folgebände hervorgebracht hat36.
Abseits dieses Hauptstromes gibt und gab es durchaus nicht nur humanitär verbrämte Ignoranz. Statt anderer alternativer Traditionslinien ist kurz auf diejenige einzugehen, die von Carl Schmitt zu Robert Spaemann und weiter zur Identitären Bewegung führt37, deren Aktivismus durchaus kritikwürdig ist, deren Gedankengut aber nichtsdestotrotz eine gerechte Würdigung verdient38. Diese Richtung, so heterogen sie anmutet, unterscheidet die ethischen Impulse, die zum Wesen des Glaubens gehören, etwa die Nächstenliebe, von den Inhalten des Glaubens. Diese beiden Dimensionen klafften im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder einmal auseinander, was heute oft in kirchenkritischer Absicht reflektiert wird. Gegenwärtig sieht es so aus, als sei die ethische Dimension übermächtig. Dieser Augenschein rührt daher, dass das Christentum besonders in den wohlhabenderen Staaten des Westens längst keine „heiße Religion“ (Rüdiger Safranski) mehr darstellt. Religion prägt in den meisten Fällen den Alltag auch der nominellen Christen nicht mehr. Bereits bedeutende Kulturkritiker des 19. Jahrhunderts wie Dostojewski haben hervorgehoben, dass der Glaube erst dann relevant werde, wenn er grenzziehend wirke. Davon ist in unseren Breiten wenig zu spüren. Das geistig-kulturelle Vakuum ist unübersehbar und bestimmt weithin den Alltag.39 Bei vielen Muslimen kann man hingegen andere Beobachtungen machen.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Positionierung von Glauben und Christentum in den Gegenwartsdebatten ist aufgrund der Veränderungen der letzten Jahre nicht so einfach, wie es bei der Rezeption durch die deutschsprachige Publizistik den Anschein hat. Vernimmt man den kirchenamtlichen Hauptstrom beider Konfessionen, so sind die Relationen klar: Rechte Phänomene lassen sich demnach mit christlichen Lehrmeinungen wie auch mit christlicher Ethik nicht vereinbaren. Konkret gelten demnach AfD, „Pegida“ und Identitäre Bewegung als pauschal widerchristlich. Doch bei genauerem Hinsehen sind nicht nur einzelne Forderungen dieser Gruppierungen mit diversen Aussagen des kirchlichen Lehramtes zu verbinden. Weiter ist festzustellen, dass höhere kirchliche Amtsträger in östlichen Ländern Europas vieles von dem verlautbaren lassen, was hierzulande in den Geruch eines perhorreszierten „rechten Christentums“ kommt. Der Widerstand gegen die zunehmende Islamisierung ist dabei nur eine wichtige Forderung.
Da der 2018 erschienene Sammelband „Rechtes Christentum?“40, der bereits bei seiner Vorstellung auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst des Jahres Aufsehen erregte, einige Facetten dieser Strömung hervorkehrt, möchte der hiermit vorliegende Folgeband weitere Themenfelder präsentieren. Die Bezeichnung „rechtes Christentum“ berührt schon begrifflich zwei Dimensionen des Glaubens: die des rechten Bekenntnisses im Sinne der Orthodoxie und die der Verbindung mit politisch konservativen sowie nationalen Erscheinungen, soweit sie innerhalb des christlichen Credos zu verorten sind. Die Linksverschiebung beider Kirchen, vor allem von deren Leitungen, wird als grundsätzliches Problem gesehen. Denn sie ist natürlich nicht die einzig mögliche politische Auslegung des überlieferten Glaubensgutes. Es gibt auch andere legitime politische Implikationen.
Wie beim Vorgängerband möge der Leser auch hier keine „rote Linie“, kein Mosaik, keinerlei einheitliches Bild erwarten. Wir präsentieren eine Vielfalt an Stimmen, die keine „Schule“ und erst recht keine „Front“ vertreten wollen, sondern ein Denken und ernsthaftes Suchen abseits des theologischen und kirchenpolitischen Hauptstroms.
Thomas