diese (hier idealtypisch zu charakterisierende) Richtung für offene Grenzen und weitere Masseneinwanderung ein. Selbst an der Spitze der katholischen Kirche nehmen manche eine säkulare Trias als zu verwirklichende Hauptaufgabe (statt des Einsatzes zugunsten des Seelenheils) wahr: Menschenrechte, Migration und Klimawandel. Dem globalistisch eingefärbten Humanitärethos gebührt folglich ein hoher Stellenwert, vielleicht sogar der prioritäre.
Freilich ist jenseits tagespolitischer Debatten etwas allgemeiner auf die Rolle der Kirchen in der Gegenwartsgesellschaft einzugehen. Das Neue Testament, auf das sich die Vertreter christlicher Gemeinschaften natürlich zuerst berufen, ist schon vor beinahe 2000 Jahre entstanden, die dazugehörigen Bücher der jüdischen Bibel sind sogar noch weitaus älter. Trotz dieses langen Zeitraumes offenbart die Heilige Schrift immer noch ein normatives Potenzial, das interpretationsbedürftig und hermeneutisch in die Gegenwart zu übersetzen ist. Selbst intellektuelle Vertreter der Linken haben dies in den letzten Jahren von Neuem unterstrichen.12
Charakteristisch für die geistig-kulturelle Entwicklung in den westlichen Industriestaaten ist ein unübersehbarer Rückgang des Glaubens. Die harten Fakten der Demoskopie hierzu sind aussagekräftig. Trotz dieser Tendenz ist das Bewusstsein in öffentlichen Debatten nicht vollständig erloschen, dass Freiheit ohne bestimmte Voraussetzungen nicht auskommt, sich also nicht völlig allein generieren kann, wie die meisten heutigen Liberalen annehmen. Ein diskursiver Reflex der Annahme von spezifisch kulturellen und kulturgeschichtlichen Abhängigkeiten der Freiheit ist in der fast inflationären Präsenz des sogenannten Böckenförde-Theorems in den politischen, juristischen, journalistischen und sonstigen Gegenwartskontroversen zu erkennen.13 So vielfältig diese Doktrin auch zu interpretieren ist: Sie handelt – in indirektem Rekurs auf Hegel und Carl Schmitt – vom Anteil des christlichen Glaubens an der Genealogie der Freiheit, die keineswegs als geschichtslos zu begreifen ist. Besonders Hegel und andere idealistische Denker arbeiteten die christliche Wahrheit als maßgebliche Präsupposition von Moderne und Freiheit heraus.14 Dieser Zusammenhang erklärt wenigstens teilweise, warum das Modernisierungstheorem, das in den 1970er-Jahren die Diskussion dominierte, heute weithin als obsolet gilt. Danach muss der Glauben als Konsequenz der Moderne schrittweise verschwinden. Allerdings ist der religiöse Faktor zumindest in einem Punkt aufklärungsresistent: Kontingenzbewältigungspraxis erscheint ohne Bezug zur Religion – in welcher Art und Weise auch immer – unmöglich.15
Niemand kann bestreiten, dass sich religiös-ethische Grundsätze nicht eins zu eins in den Bereich der Politik übertragen lassen. Christus wirkt zwar bis heute im Nachhall seiner Worte und seines Tuns überaus politisch, sein primäres Streben lag jedoch in der Verkündigung des Reiches Gottes, war also stark eschatologisch ausgerichtet. Gerade die Scheidung von Kaiser und Gott ist als hochpolitischer Akt zu begreifen. Allerdings ist auch nicht zu bestreiten, dass in den entsprechenden politischen Implikationen (auch hinsichtlich der Genese der Demokratie) kein Schlüssel liegt, eine exakte Positionierung der Kirchen – um ein Beispiel anzuführen – in dem Disput zwischen linken und liberalen Eliten einerseits und ihren Gegnern andererseits vorzunehmen. Dazu ist auch die heutige Situation zu spezifisch. Sie unterscheidet sich von vielen Fragestellungen in der Kirchengeschichte zweifellos erheblich.
Trotzdem wird öfters versucht, aus bestimmten Prinzipien, die den Glauben ausmachen, Ableitungen bezüglich der politischen Verhältnisse in der Gegenwart vorzunehmen. Nur ist die Frage, welche Grundsätze das im konkreten Fall sind. Üblicherweise versuchen liberale und linke Theologen, die universalistische Ausrichtung des Christentums in die Mitte ihrer Deutung zu stellen. Man verweist gern auf das bekannte Gleichnis vom barmherzigen Samariter, auf den Taufbefehl, auf die berühmte Stelle im Galaterbrief über das Einssein „in Christus“, aber auch auf das Pfingstwunder, über das die Apostelgeschichte berichtet. Die Nächstenliebe ist ein Grundprinzip jedes christlichen Handelns. Sie verbietet gewiss Fremdenfeindlichkeit; denn auch mit dem ausländischen Bruder oder der ausländischen Schwester kann und soll der Christ im Geiste Christi verbunden sein.
Aber muss eine solche Haltung dazu führen, die Masseneinwanderung zu befürworten, die im schlimmsten Fall seelsorgliche Aktivitäten erschweren oder sogar unmöglich machen könnte? Das Gebot der Nächstenliebe macht eine solche Entscheidung nicht überflüssig. Gleiches gilt für die umfassende Ausrichtung. Der christliche Glaube stellt nämlich nicht nur eine ethische Handlungsanweisung dar, wie die Nächstenliebe sie im Gewissen bindend vorgibt; vielmehr verpflichtet er auch zur Annahme bestimmter Glaubensinhalte, die in der praktischen Seelsorge verkündet werden. Werden die Bedingungen für eine solche Verkündigung langfristig erschwert, was durch billigende Inkaufnahme einer übermäßigen Einwanderung aus kulturfremden Gegenden wohl der Fall sein dürfte, muss einer derartigen Migration auch aus christlichen Gründen ein Riegel vorgeschoben werden. Diese Dimension des Glaubens ist evident. Nicht zu vergessen ist darüber hinaus die Verbundenheit des Herrn mit seinem jüdischen Volk. Sein Vater sandte ihn zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“. Auch hier zeigt sich ein schwer entwirrbares Spannungsverhältnis. Die universalistische Kehre wurde wohl nicht von der Jerusalemer Urgemeinde in die Wege geleitet, wie der Ausgang des Apostelkonzils und der Streit um die Notwendigkeit der Beschneidung von Neuchristen in der frühen Kirche belegen; vielmehr stellte erst der Apostel Paulus mit seinem Wirken in der griechischen Kulturwelt entsprechende Weichen.
Bis heute ist umstritten, welches aus der Antike überlieferte Theorem den Kern des Christentums ausmacht. Manche führen das christliche Menschenbild, also primär die Gotteskindschaft, ins Feld. Durchaus plausibel erscheint noch eine andere Quintessenz im Hinblick auf die Anthropologie: die Beeinträchtigung menschlichen Handelns durch die Erbsünde.16 Das „peccatum“ ruft die Leidenschaften beim Menschen hervor, die Disponiertheit zur Schuld bei jeder einzelnen Handlung bis hin zur Zerstörung der eigenen Person oder anderer Personen. Hier wird das Wesen des Menschen berührt. Von Paulus über Augustinus und Luther bis zu konservativen Protestanten, etwa dem Philosophen Günter Rohrmoser, betrachtete man von einer solchen pessimistischen Sichtweise her auch das Zusammenleben im Staat. Diese Perspektive impliziert eine andere Positionierung des Christentums (auch in den Gegenwartsdebatten!) als die bloße Betonung universalistischer Lehrelemente. Die Knute des Obrigkeitsstaates rechtfertigte man in vielen theologischen Debatten mit dem Rekurs auf die Erbsündendoktrin.
Aufgrund der unspezifisch-unscharfen Erscheinungsformen des Christentums bezüglich der Welt und allen ihren Aspekten, auch den politischen, existieren liberale17, konservative18 und sozialistische19 Interpretationen. Die Zuordnung von Glauben und Politik war seit jeher schwierig und ist seit dem Untergang der Monarchie in vielen Staaten der Welt, besonders in Europa, nicht leichter geworden. Diese Problematik zeigt sich auch in den Debatten der unmittelbaren Gegenwart.
Die deutliche Mehrheit der Amtsträger der katholischen wie evangelischen Kirche erklärt unmissverständlich, dass es keine Unterstützung sogenannter populistischer oder rechter Strömungen (beides wird häufig synonym verwendet) geben dürfe. Der Mainstream der katholischen Publizistik sekundiert dieser Ansicht. Manchmal wird vorsichtig eingeräumt, dass die Fronten nicht so klar seien, wie es prima vista erscheine.20 Man verweist (neben anderen Argumenten) auf die demoskopisch belegbare Tatsache, dass es Donald Trump im US-Präsidentenamt nicht gäbe, hätte er nicht unter den evangelikalen und katholischen Christen viele Wähler gehabt. Die Notwendigkeit einer Differenzierung liegt schon deshalb auf der Hand, weil liberale und linke Eliten ein anderes Gesellschaftsbild verfolgen, unter anderem meist ein ganz anderes Bild von Ehe und Familie präferieren, als es der herkömmlichen Sicht von protestantischen und katholischen Christen entspricht. Andere