Agnes Sapper

Die Familiensaga der Pfäfflings


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      Es war der 21. Dezember, der kürzeste Tag des Jahres. Um dieselbe Tageszeit, wo im Hochsommer die Sonne schon seit fünf Stunden am Himmel steht, saß man heute noch bei der Lampe am Frühstückstisch, und als diese endlich ausgeblasen wurde, war es noch trüb und dämmerig in den Häusern. Allmählich aber hellte es sich auf und die Sonne, wenn sie gleich tief unten am Horizont stand, sandte doch ihre schrägen Strahlen den Menschenkindern, die heute so besonders geschäftig durcheinander wimmelten. Es war ja der letzte Samstag vor Weihnachten, zugleich der Thomastag, ein Feiertag für die Schuljugend. Jedermann wollte die wenigen hellen Stunden benützen, um Einkäufe zu machen. Wieviel Gänse und Hasen wurden da als Festbraten heimgeholt und wieviel Christbäume! Auf den Plätzen der Stadt standen sie ausgestellt, die Fichten und Tannen, von den kleinsten bis zu den großen stattlichen, die bestimmt waren, Kirchen oder Säle zu beleuchten.

      Mitten zwischen diesen Bäumen, von ihrem weihnachtlichen Duft und Anblick ganz hingenommen und im Anschauen versunken, stand unser kleiner Frieder. Er hatte für den Vater etwas in der Musikalienhandlung besorgt, kam nun heimwärts über den Christbaummarkt und konnte sich nicht trennen. Nun stand er vor einem Bäumchen, nicht größer als er selbst, saftig grün und buschig. Sie mochten vielleicht gleich alt sein, dieser Bub und dies Bäumchen und sahen beide so rundlich und kindlich aus. Sie standen da, vom selben Sonnenstrahl beleuchtet und wie wenn sie zusammen gehörten, so dicht hielt sich Frieder zum Baum.

      »Du! dich meine ich, hörst du denn gar nichts; so wirst du nicht viel verdienen!« sagte plötzlich eine raue Stimme, und eine schwere Hand legte sich von hinten auf seine Schulter. Frieder erwachte wie aus einem Traum, wandte sich und sah sich zwei Frauen gegenüber. Die ihn angerufen hatte, war eine große, derbe Person, eine Verkäuferin. Die andere eine Dame mit Pelz und Schleier. »Pack an, Kleiner, du sollst der Dame den Baum heimtragen, du weißt doch die Luisenstraße?« sagte die Frau und legte ihm den Baum über die Schulter.

      »Ist der Junge nicht zu klein, um den Baum so weit zu tragen?« fragte die Dame.

      »O bewahre,« meinte die Händlerin, »der hat schon ganz andere Bäume geschleppt, sagen Sie ihm nur die Adresse genau, wenn Sie nicht mit ihm heim gehen.« »Luisenstraße 43 zu Frau Dr. Heller,« sagte die Dame. »Sieh, auf diesem Papier ist es auch aufgeschrieben. Halte dich nur nicht auf, dass dich's nicht in die Hände friert.« Da Frieder immer noch unbeweglich stand, gab ihm die Verkäuferin einen kleinen Anstoß in der Richtung, die er einzuschlagen hatte.

      Frieder, den Baum mit der einen Hand haltend, den Papierzettel in der andern, trabte der Luisenstraße zu. Er hatte so eine dunkle Ahnung, dass er mehr aus Missverständnis zu diesem Auftrag gekommen war, er wusste es aber nicht gewiss. Die Damen konnten die Bäume nicht selbst tragen, so mussten eben die Buben helfen. Er sah manche mit Christbäumen laufen, freilich meist größere. Er war eigentlich stolz, dass man ihm einen Christbaum anvertraut hatte. Wenn ihm jetzt nur die Brüder begegnet wären oder gar der Vater!

      Wie die Zweige ihn so komisch am Hals kitzelten, wie ihm der Duft in die Nase stieg und wie harzig die Hand wurde! Allmählich drückte der Baum, obwohl er nicht groß war, unbarmherzig auf die Schulter, man musste ihn oft von der einen auf die andere legen, und bei solch einem Wechsel entglitt ihm das Papierchen mit der Adresse und flatterte zu Boden, ohne dass die steife, von der Kälte erstarrte Hand es empfunden hätte. Nun schmerzten ihn die beiden Schultern, er trug den Baum frei mit beiden Händen. Aber da wurde Frieder hart angefahren von einem Mann, der ihm entgegen kam: »Du, du stichst ja den Menschen die Augen aus, halte doch deinen Baum hinter dich, so!« und der Vorübergehende schob ihm den Baum unter den Arm. Nach kürzester Zeit kam von hinten eine Stimme: »Du, Kleiner, du kehrst ja die Straße mit deinem Christbaum, halte doch deinen Baum hoch!« Ach, das war eine schwierige Sache! Aber nun war auch die Luisenstraße glücklich erreicht. Freilich, die Adresse war abhanden gekommen, aber Frieder hatte sich das wichtigste gemerkt, Nr. 42 oder 43 und im zweiten Stock und bei einer Frau Doktor, das musste nicht schwer zu finden sein. In Nr. 42a wollte niemand etwas von dem Baum wissen, aber in Nr. 42b bekam Frieder guten Bescheid, das Dienstmädchen wusste es ganz gewiss, der Baum gehörte nach Nr. 47, die Dame war zugleich mit ihr auf dem Markt gewesen und hatte einen Baum gekauft. Also nach Nr. 47. Als man ihm dort seinen Baum wieder nicht abnehmen wollte, kamen ihm die Tränen, und eine mitleidige Frau hieß ihn sich ein wenig auf die Treppe setzen, um auszuruhen.

      »In der Luisenstraße wohnt nur ein Doktor,« sagte sie, »und das ist Dr. Weber in Nr. 24, bei dem musst du fragen.« Unser Frieder hätte nun lieber in Nr. 43 angefragt, denn er meinte sich zu erinnern, das sei die richtige Nummer, aber Frieder traute immer allen Leuten mehr zu als sich selbst, und so folgte er auch jetzt wieder dem Rat, ging an Nr. 43 vorbei bis an Nr. 24 und hörte dort von dem Dienstmädchen der Frau Dr. Weber, sie hätten längst einen Baum und einen viel schöneren und größeren. Jetzt aber tropften ihm die dicken Tränen herunter, und als er wieder auf der Straße stand, wurde ihm auf einmal ganz klar, wo er jetzt hingehen wollte – heim zur Mutter. Es musste ja schon spät sein, vielleicht gar schon Essenszeit. Kam er da nicht heim, so hatte die Mutter Angst, und der Vater hatte ja gesagt, es dürfe nichts, gar nichts mehr vorkommen vor Weihnachten. Also nur schnell, schnell heim!

      Und es war wirklich höchste Zeit.

      Niemand hatte bis jetzt Frieders langes Ausbleiben bemerkt, als nun aber Marie und Anne anfingen, den Tisch zu decken, sagte Elschen: »Frieder hat versprochen, mit mir zu spielen, und nun ist er den ganzen Vormittag weggeblieben!«

      »Er ist gewiss schon längst bei den Brüdern, im Hof, auf der Schleife. Sieh einmal nach ihm,« sagten die Schwestern.

      Aber Frieder war verschollen und die Geschwister fingen an, sich zu ängstigen, nicht sowohl für den kleinen Bruder – was sollte dem zugestoßen sein – , aber wenn er nicht zu Mittag käme, würden sich die Eltern sorgen und darüber ärgern, dass doch wieder etwas vorgekommen sei. »Er wird doch kommen bis zum Essen,« sagten sie zueinander und, als nun die Mutter ins Zimmer trat, sprachen sie von allerlei, nur nicht von Frieder. Elschen stand an der Treppe, nun kam der Vater heim, fröhlich und guter Dinge und fragte gleich: »Ist das Essen schon fertig?«

      »Es ist noch nicht halb ein Uhr,« entgegnete Karl, der die Frage gehört hatte. »Es wird gleich schlagen,« meinte der Vater, ging aber doch noch in sein Zimmer. Im Vorplatz berieten leise die Geschwister: »Wenn man nur das Essen ein wenig verzögern könnte,« sagte Karl.

      »Das will ich machen,« flüsterte Marie, ging in die Küche, zog Walburg zu sich und rief ihr dann ins Ohr: »Frieder ist noch nicht daheim, der Vater wird so zanken, und die Mutter wird Angst haben, kannst du nicht machen, dass man später isst?« Walburg nickte freundlich, ging an den Herd, deckte ihre Töpfe auf und sagte dann: »Du kannst der Mutter sagen, den Linsen täte es gut, wenn sie noch eine Weile kochen dürften.« Da sprang Marie befriedigt hinaus, Walburgs Ausspruch ging von Mund zu Mund, und bis es der Mutter zu Ohren kam, waren die Linsen ganz hart.

      »So?« sagte sie verwundert, »mir kamen sie weich vor, aber wir können ja noch ein wenig mit dem Essen warten.«

      »Ja, harte Linsen sind nicht gut, sind ganz schlecht,« sagten die Kinder.

      So vergingen fünf Minuten. Inzwischen lief unser Frieder, so schnell er es nur mit seinem Baum vermochte. Jetzt trabte er die Treppe herauf, und bei seinem Klingeln eilten alle herbei, um aufzumachen. Frau Pfäffling merkte jetzt, dass etwas nicht in Ordnung war und ging auch hinaus. Da stand Frieder ganz außer Atem, mit glühenden Backen, den Christbaum auf der Schulter und fragte ängstlich: »Isst man schon?«

      Als er aber hörte, dass die Mutter ihn nicht vermisst hatte, und sah, wie man seinen Baum anstaunte und die Mutter so freundlich sagte: »Stell ihn nur ab, du glühst ja ganz,« da wurde ihm wieder leicht ums Herz. Sie meinten alle, der Christbaum gehöre Frieder. »Nein, nein,« sagte dieser, »ich muss ihn einer Frau bringen, ich weiß nur nimmer, wie sie heißt und wo sie wohnt.« Da lachten sie ihn aus und wollten alles genau hören, auch Herr Pfäffling war hinzu gekommen und hörte von Frieders Irrfahrten, nahm ihn bei der Hand und sagte: »Nun komm nur zu Tisch, du kleines Dummerle, du!«

      Die Linsen waren nun plötzlich weich, und wie es Frieder schmeckte, lässt sich denken.

      Beim