Agnes Sapper

Die Familiensaga der Pfäfflings


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sagte der Professor nach der Stunde zu Wilhelm.

      »Ja, Herr Professor, es war eine Verwechslung, ich war gar nicht aufgeschrieben worden, ein anderer hat meinen Namen statt seinem angegeben.«

      »Wer? Einer aus meiner Klasse?«

      »Wer das war, will der Schutzmann erst herausbringen,« antwortete Wilhelm.

      Der Professor hatte kaum das Schulzimmer verlassen, als alle Kameraden sich um Wilhelm drängten und näheres erfahren wollten, auch Baumann war unter ihnen. Der eine, der schon am Morgen behauptet hatte, dass Baumann aufgeschrieben worden sei, sagte ihm frei ins Gesicht: »Du hast den falschen Namen angegeben.« Da versuchte er nimmer zu leugnen, sondern fing an, sich zu entschuldigen: »Dem Pfäffling hat das doch nichts geschadet, für mich wäre es viel schlimmer gewesen. Du musst mir's nicht übel nehmen, Pfäffling, ich habe ja vorher gewusst, dass dir das nichts macht.«

      »So? frage einmal meinen Vater, ob ihm so etwas nichts macht?« rief Wilhelm, »du bist ein Tropf, ein Lügner, das sage ich dir; aber dem Polizeiamtmann habe ich dich nicht verraten. Wenn dich der Schutzmann nicht wieder erkennt, dann kann es ja wohl sein, dass du dich durchgeschwindelt hast.« Nun sprang einer der Kameraden die Treppe hinunter, um zu sehen, ob ein Polizeidiener unten stehe. Richtig war es so. Da wurde verabredet, Baumann in die Mitte zu nehmen, einige Größere um ihn herum und dann in einem dichten Trupp die Treppe hinunter und bis um die nächste Straßenecke zu rennen. So geschah es. Die meisten Klassen des Gymnasiums hatten sich schon entleert; der Schutzmann stand lauernd am Tor. Da, plötzlich tauchte ein Trupp von Knaben auf und schoß an ihm vorbei, in solcher Geschwindigkeit, dass er auch nicht ein Gesicht erkannt hatte. Ärgerlich ging er seiner Wege, aber hatte er den Übeltäter auch noch nicht fassen können, das war ihm jetzt sicher, dass er zu dieser Klasse gehörte, und er sollte ihm nicht entgehen.

      Wie war für Frau Pfäffling dieser Vormittag daheim so lang und so peinlich! Immer musste sie an Wilhelm denken. ›Er hat gewiss nichts getan, was strafwürdig ist,‹ sagte sie sich und dann fragte sie sich wieder: ›warum ist er dann vorgeladen?‹ Gestern hatte sie in fröhlicher Stimmung alles vorbereitet für das Weihnachtsgebäck, heute hätte sie es am liebsten ganz beiseite gestellt, alle Lust dazu war weg. Sie mühte sich sonst so gern den ganzen Vormittag im Haushalt und dachte dabei: ›Wenn Mann und Kinder heimkommen von fleißiger Arbeit, sollen sie es zu Hause gemütlich finden.‹ Aber wenn die Kinder nicht ihre Schuldigkeit taten, wenn sie draußen Unfug trieben, sollte man dann daheim Zeit und Geld für sie verwenden?

      In dieser Stimmung sah Frau Pfäffling diesen Morgen manches, was ihr nicht gefiel. Im Bubenzimmer lagen Hausschuhe, nur so leichthin unter das Bett geschleudert; hässlich niedergetreten waren sie auch, wie oft hatte sie das schon verboten! Im Wohnzimmer lag ein Brief, den hätten die Kinder mit zum Schalter nehmen sollen, alle sechs hatten sie ihn sehen müssen, alle sechs hatten ihn liegen lassen, sogar Marianne, die doch als Mädchen allmählich ein wenig selbst daran denken sollten, ob nichts zu besorgen wäre! Das waren lauter Pflichtversäumnisse, und wer daheim die Hausgesetze nicht beachtete, der konnte leicht auch draußen gegen die Ordnung verstoßen. Aber freilich müsste die Mutter ihre Kinder fester dazu anhalten, strenger erziehen, als sie es tat! Sie selbst war schuld.

      Elschen, die nicht wusste oder nimmer daran dachte, was die Mutter heute bedrückte, kam in der fröhlichsten Weihnachtsstimmung herbeigesprungen. Walburg hatte ihr die Teigschüssel ausscharren lassen. »Mutter,« rief die Kleine, »die Backröhre ist schon geheizt!« Aber die Mutter hatte heute einen unglückseligen Blick. An dem ganzen kleinen Liebling sah sie nichts als drei Streifen, Spuren von Teig an der Schürze.

      »Else, dahin hast du deine Finger gewischt,« sagte sie mit ungewohnter Strenge, »gestern erst habe ich dir gesagt, du sollst deine Hände waschen, und nicht an die Schürze wischen,« und sie patschte fest auf die kleinen Hände. Das Kind zog leise weinend ab, und die Mutter sagte sich vorwurfsvoll: ›Deine Kinder sind alle unfolgsam!‹ Darnach ging sie aber doch zum Backen in die Küche, das angefangene musste trotz allem vollendet werden. Sie wollte den Schlüssel zum Küchenschrank mit hinausnehmen, fand ihn nicht gleich und dachte bekümmert: ›Wo die Hausfrau selbst ihre Ordnung nicht einhält, muss freilich die ganze Wirtschaft herunterkommen!‹ In dieser schwarzsichtigen Stimmung vergingen ihr langsam die Stunden, und gegen Mittag sah sie in ängstlicher Spannung nach den Kindern aus. Diese hatten sich alle auf dem Heimweg zusammengefunden und in der Frühlingsstraße holte auch Herr Pfäffling sie ein. Die Losung war nun: »Nur schnell heim zur Mutter, sie allein ist noch in Angst, hat keine Ahnung, wie gut sich alles gelöst hat. Wie wird sie sorgen und warten, wie wird sie sich freuen!«

      Aber nicht nur Frau Pfäffling passte auf die eilig Heimkehrenden, auch Frau Hartwig sah heute Mittag nach ihnen aus, freilich aus einem ganz andern Grund. Sie hatte diesen Morgen an die Haustüre einen großen Bogen Papier genagelt, auf dem mit handgroßen roten Buchstaben geschrieben stand:

      Man bittet die Türe zu schließen!

      Darüber lachte ihr Mann sie aus und versicherte, es würde gar nichts helfen, die Pfäfflinge würden die Türe offen stehen lassen.

      Die Hausfrau nahm ihre Mietleute in Schutz. »Sie sind viel ordentlicher, als du denkst. Wilhelm und Otto sind ja ein wenig flüchtig, aber Karl ist immer aufmerksam und auch die Mädchen sind manierlich; der kleine Frieder sogar wird zumachen, wenn er hört, dass es mich sonst friert. Du wirst sehen, die Haustüre wird geschlossen.«

      Um das zu beobachten stand nun die Hausfrau am Fenster, sah wie die Familie Pfäffling sieben Mann hoch heim kam – eifriger sprechend als sonst, hörte sie die Treppe hinauf gehen – noch flinker als gewöhnlich, ging dann hinaus, um nachzusehen und fand die Haustüre offen stehend, so weit sie nur aufging.

      Kopfschüttelnd schloss sie selbst die Türe. Aber sie verlor nicht den guten Glauben an ihre Mietleute. Sie hatte ihnen ja wohl angemerkt, dass heute etwas besonderes los war.

      Im Zimmer fragte Herr Hartwig: »Nun, wer hat denn zugemacht?« Etwas kleinlaut erwiderte sie: »Zugemacht habe ich.«

      Droben herrschte nach überstandener Angst große Freude; auch Frau Pfäffling war es wieder leicht ums Herz, glücklich und dankbar saß die ganze Familie am Essen. Aber doch – zwischen Suppe und Fleisch – sagte die Mutter: »Marianne, warum habt ihr den Brief nicht in den Schalter geworfen?«

      »Vergessen!«

      »So geht jetzt und besorgt ihn.«

      »Aber doch nach dem Essen?« fragte fast einstimmig der Kinderchor.

      »Nein, nein, eben zwischen hinein, damit ihr es merkt. Ich kann euch nicht helfen, ich hätte gar kein gutes Gewissen, wenn ich es nicht verlangte.« Da widersprach niemand mehr, die Mutter konnte man sich nicht mit schlechtem Gewissen vorstellen. Die Mädchen gingen mit dem Brief, Herr Pfäffling sah seine Frau verwundert an.

      Sie ging nach Tisch mit ihm in sein Zimmer. Da sagte sie ihm, wie schwer es ihr den ganzen Vormittag zumute gewesen sei, und es kamen ihr fast jetzt noch die Tränen. Sie sprachen lange miteinander, dann kehrte Herr Pfäffling in das Wohnzimmer zurück, wo die Großen noch beisammen waren.

      »Hört, ich möchte euch dreierlei sagen: Erstens: sorgt jetzt, dass vor Weihnachten nichts mehr vorkommt, gar nichts mehr, denn bis man weiß, wie die Sachen hinausgehen, sind sie doch recht unangenehm, besonders für die Mutter. Zweitens: Sagt dem Baumann: er solle sich bei Herrn Sekretär Floßmann entschuldigen, sonst werde es schlimm für ihn ausgehen. Drittens: Walburg soll eine Tasse Kaffee für die Mutter machen, es wird ihr gut tun, oder zwei Tassen.«

      Einer von Herrn Pfäfflings guten Ratschlägen konnte nicht ausgeführt werden, denn Wilhelm Baumann wurde noch an diesem Nachmittag aus der Schule weg und auf die Polizei geholt und war von da an aus dem Gymnasium ausgewiesen.

      Am Abend überbrachte ein Dienstmädchen einen schönen Blumenstock – eine Musikschülerin ließ Frau Pfäffling gratulieren.

      »Ich werde morgen hinkommen und mich bedanken,« ließ Herr Pfäffling sagen.

      Ja, es gibt allerlei Freuden, zu denen man gratulieren kann! Warum nicht auch, wenn ein unschuldig Verklagter freigesprochen wird? Oder war