Agnes Sapper

Die Familiensaga der Pfäfflings


Скачать книгу

      »Ja,« sagte der General, »der Hotelier gibt sich alle Mühe, seinen Gästen viel zu bieten, er ist ein tüchtiger Mann und versteht sein Geschäft ausgezeichnet, aber sein Sohn spricht nur von Arbeit und tut selbst keine! Der Sohn wird nichts.«

      Als Herr Pfäffling sich für die Weihnachtsferien verabschiedet hatte und hinausging, sah er am Fenster des Korridors eben den Sohn stehen, über den einen Augenblick vorher das vernichtende Urteil gefällt war: »Er wird nichts.« Kann es ein traurigeres Wort geben einem jungen Menschenkind gegenüber? Herr Pfäffling konnte diesmal nicht teilnahmslos an ihm vorübergehen. Rudolf Meier stand auch nicht zufällig da. Er wusste vielleicht selbst nicht genau, was ihn hertrieb. Es war das Bedürfnis, sich Achtung zu verschaffen von diesem Mann. Ein anderes Mittel hierzu kannte er nicht, als seine eigenen Leitungen zur Sprache zu bringen.

      »Wünsche fröhliche Feiertage,« redete er Herrn Pfäffling an. »Für andere Menschen beginnen ja nun die Ferien, für uns bringt so ein Fest nur Arbeit.«

      Herr Pfäffling blieb stehen. »Ja,« sagte er, »ich sehe, dass Ihr Vater sehr viel zu tun hat, aber wenn die Gäste versorgt sind, haben Sie doch wohl auch Ihre Familienfeier, Ihre Weihnachtsbescherung?«

      »Ne, das gibt es bei uns nicht. Früher war das ja so, als ich klein war und meine Mutter noch lebte, aber ich bin nicht mehr so kindisch, dass ich jetzt so etwas für mich beanspruchte. Ich habe auch keine Zeit. Sie begreifen, dass ich als einziger Sohn des Hauses überall nachsehen muss. Die Dienstboten sind so unzuverlässig, man muss immer hinter ihnen her sein.«

      »Lassen sich die Dienstboten von einem fünfzehnjährigen Schuljungen anleiten?«

      Rudolf Meier war über diese Frage verwundert. Wollte es ihm denn gar nicht gelingen, diesem Manne verständlich zu machen, dass er eben kein gewöhnlicher Schuljunge war?

      »Ich habe keinen Verkehr mit Schulkameraden,« sagte er, »in jeder freien Stunde, auch Sonntags, bin ich hier im Hause beschäftigt.«

      »Sie kommen wohl auch nie in die Kirche?«

      »Ich selbst nicht leicht, aber ich bin sehr gut über alle Gottesdienste unterrichtet. Wir haben oft Gäste, die sich dafür interessieren, und ich weiß auch allen, gleichviel ob es Christen oder Juden sind, Auskunft zu geben über Zeit und Ort des Gottesdienstes, über beliebte Prediger, feierliche Messen und dergleichen. Man muss allen dienen können und darf keine Vorliebe für die eine oder andere Konfession merken lassen. Wir dürfen ja auch Ausländer nicht verletzen und müssen uns manche spöttische Äußerung über die Deutschen gefallen lassen. Das bringt ein Welthotel so mit sich.«

      Herr Pfäffling sagte darauf nichts und Rudolf Meier war zufrieden. Das »Welthotel« war immer der höchste Trumpf, den er ausspielen konnte, und der verfehlte nie seine Wirkung, auch auf Herrn Pfäffling hatte er offenbar Eindruck gemacht, denn der geringschätzige Blick, den er vor der Stunde für ihn gehabt hatte, war einem andern Ausdruck gewichen.

      Unten, im Hausflur, stand noch immer die Türe zu dem großen Saal offen, die Dekoration hatte Fortschritte gemacht, Herr Rudolf Meier sen. stand auf der Schwelle und überblickte das Ganze, und im Vorbeigehen hörte Herr Pfäffling ihn zu einem Tapezierer sagen:

      »An diesem Fenster ist noch Polsterung anzubringen, damit jede Zugluft von den Gästen abgehalten wird.«

      Unser Musiklehrer, dem sonst, wenn er von seinen russischen Schülern kam, die schönsten Melodien durch den Kopf gingen, war heute auf dem Heimweg in Gedanken versunken. Er sah vor sich den tüchtigen Geschäftsmann, der in unermüdlicher Tätigkeit sein Hotel bestellte, der von seinen Gästen jeden schädlichen Luftzug abhielt, und der doch nicht merkte, wie der einzige Sohn, dem dies alles einst gehören sollte, in Gefahr war, zugrunde zu gehen. Herr Pfäffling war eine Straße weit gegangen, da trieben ihn seine Gedanken wieder rückwärts. »Sprich mit dem Mann ein Wort über seinen Sohn,« sagte er sich, »wenn seinem Haus eine Gefahr drohte, würdest du es doch auch sagen, warum nicht, wenn du siehst, dass sein Kind Schaden nimmt, dass es höchste Zeit wäre, es den schlimmen Einflüssen zu entziehen? Es sollte fortkommen vom Hotel, von der großen Stadt, in einfache, harmlose Familienverhältnisse!« Während sich Herr Pfäffling dies überlegte, ging er raschen Schritts ins Zentralhotel zurück, und nun stand er vor Herrn Meier, in dem großen Saal.

      Der Hotelbesitzer meinte, der Musiklehrer interessiere sich für die Dekoration und forderte ihn höflich auf, alles zu besehen. »Ich danke,« sagte Herr Pfäffling, »ich sah schon vorhin, wie hübsch das wird, aber um Ihren Sohn, Herr Meier, um Ihren Sohn ist mir's zu tun!«

      Äußerst erstaunt sah der so Angeredete auf und sagte, indem er nach einem anstoßenden Zimmer deutete: »Hier sind wir ungestört. Wollen Sie Platz nehmen?«

      »Nein,« sagte Herr Pfäffling, »ich stehe lieber,« eigentlich hätte er sagen sollen, »ich renne lieber,« denn kaum hatte er das Gespräch begonnen, so trieb ihn der Eifer im Zimmer hin und her.

      »Ich meine,« sagte er, »über all Ihren Leistungen als Geschäftsmann sehen Sie gar nicht, was für ein schlechtes Geschäft bei all dem Ihr Kind macht. Ist's denn überhaupt ein Kind? War es eines? Es spricht wie ein Mann und ist doch kein Mann. Ein Schuljunge sollte es sein, der tüchtig arbeitet und dann fröhlich spielt. Er aber tut keines von beiden. In dem Alter, wo er gehorchen sollte, will er kommandieren, den Herrn will er spielen und hat doch nicht das Zeug dazu. Er wird kein Mann wie Sie, er wird auch kein Deutscher, wird kein Christ, denn er dünkt sich über alle dem zu stehen. Der sollte fort aus dem Hotel, fort von hier, in ein warmes Familienleben hinein, da könnte noch etwas aus ihm werden, aber so nicht!«

      Herr Pfäffling hatte so eifrig gesprochen, dass sein Zuhörer dazwischen nicht zu Wort gekommen war. Er sagte jetzt anscheinend ganz ruhig und kühl: »Ich muss mich wundern, Herr Pfäffling, dass Sie mir das alles sagen. Wir kennen uns nicht und meinen Sohn kennen Sie wohl auch nur ganz flüchtig. Mir scheint, Sie urteilen etwas rasch. Andere sagen mir, dass mein Sohn der geborene Geschäftsmann ist und schon jetzt einem Haus vorstehen könnte. Wenn er Ihnen so wenig gefällt, dann bitte kümmern Sie sich nicht um ihn, ich kenne mein eigenes Kind wohl am besten und werde für sein Wohl sorgen.«

      Herr Pfäffling sah nun seinerseits ebenso erstaunt auf Herrn Meier, wie dieser vorher auf ihn. Endlich sagte er: »Ich sehe, dass ich Sie gekränkt habe. Das wollte ich doch gar nicht. Wieder einmal habe ich vergessen, was ich schon so oft bei den Eltern meiner Schüler erfahren habe, dass es die Menschen nicht ertragen, wenn man offen über ihre Kinder spricht und wenn es auch aus der reinsten Teilnahme geschieht. Sagen Sie mir nur das eine, warum würden Sie es mir danken, wenn ich Ihnen sagte: ›Ihr Kind ist in Gefahr, ins Wasser zu fallen,‹ und warum sind Sie gekränkt, wenn ich sagte: ›dem Kind droht Gefahr für seinen Charakter?‹ Darin kann ich die Menschen nie verstehen!«

      Diese Frage blieb unbeantwortet, denn zwei Handwerksleute kamen herein, verlangten Bescheid, und Herr Pfäffling machte rasch der Unterredung ein Ende, indem er sagte: »Wie ungeschickt bin ich Ihnen mit dieser Sache gekommen, ich sehe, Sie sind draußen unentbehrlich und will Sie nicht aufhalten.« Er ging, der Hotelbesitzer hielt ihn nicht zurück.

      »Diese Sache ist misslungen,« sagte sich Herr Pfäffling, »ich habe nichts erreicht, als dass sich der Mann über mich ärgert.« Und nun ärgerte auch er sich, aber nur über sich selbst. Warum hatte er sich seine Worte nicht erst in Ruhe überlegt und schonend vorgebracht, was er sagen wollte, statt diesen ahnungslosen Vater mit hageldicken Vorwürfen zu überschütten? Nun ging er mit sich selbst ebenso streng ins Gericht: »Nichts gelernt und nichts vergessen; immer noch gerade so ungestüm wie vor zwanzig Jahren; immer vor getan und nach bedacht, trotz aller Lebenserfahrung: wenn du es nicht besser verstehst, auf die Leute einzuwirken, so lass die Hand davon; kümmere dich um deine eigenen Kinder, wer weiß, ob sie andern Leuten nicht auch verkehrt erscheinen.«

      Nachdem sich Herr Pfäffling so die Wahrheit gesagt hatte, beruhigte er sich über Rudolf Meier, und versetzte sich in Gedanken zu seinen eigenen Kindern. Nun kam ihm wieder die Pfäfflingsche Note in den Sinn: eins bis zwei. Er dachte in dieser Richtung noch weiter nach, und die Folge davon war, dass er nach seiner Rückkehr dem ersten, der ihm zu Hause in den Weg lief, zurief:

      »Legt