ins gedämpfte Licht blinzeln, das durch die halb heruntergelassenen Jalousien fiel. Vergeblich. Da war etwas in ihrem Gesicht, was dort auf keinen Fall hingehörte. Beim Versuch, die Augen zu betasten, riss sie den Pulsoxymeter vom Finger. Ein durchdringender Alarm ertönte. Rasch beseitigte Daniel das Problem. »Warum kann ich nichts sehen?«, fragte sie eine Oktave höher.
»Keine Sorge, es ist alles in Ordnung. Professor Krug hat sich lediglich entschlossen, beide Augen gleichzeitig zu operieren, um Sie nicht unnötig großen Belastungen auszusetzen.«
Es klopfte. Im nächsten Augenblick wurde die Klinke heruntergedrückt. Ein Rascheln ließ Lenni aufhorchen. Schnuppernd hob sie die Nase.
»Oskar? Mit Blumen?« Die Falten auf ihrem Gesicht glätteten sich.
Die Zwillinge Jan und Dési, die ältere Schwester Anneka und ihre Mutter schickten sich vielsagende Blicke.
»Tut uns leid. Wir sind es nur«, bemerkte Fee verschnupft.
Janni zeigte sich weniger empfindlich.
»Komm schon, Lenni, das wird schon wieder!« Er beugte sich zu seiner Ersatzomi und drückte ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange.
»Das werden wir ja sehen. Wann kann ich nach Hause?«
Daniel Norden machte ein paar Notizen in der Krankenakte.
»Sie sind ja schon wieder voller Energie. Das ist ein gutes Zeichen.« Der Kugelschreiber kratzte über das Papier. »Aber ein paar Tage wird es schon noch dauern.«
Lenni verschränkte die Arme und presste die Lippen aufeinander. Wie ein See, über den der Wind strich, bewegten sich die Falten in ihrem Gesicht.
»Hat sich Oskar schon gemeldet?«
Alle sahen hinüber zu Anneka, die die Aufgabe übernommen hatte, sich um den Klinikkiosk ›Allerlei‹ zu kümmern. Neben Artikeln des täglichen Bedarfs gab es dort Leckereien aus der Bäckerei ›Schöne Aussichten‹. Saftige Vanilleschnecken, Quarkbällchen, aber auch so exotische Köstlichkeiten wie Zitronentarte mit Minze konnten unter Palmen bei einer Tasse Kaffee genossen werden. Anneka hatte alle Hände voll zu tun gehabt, um die Wünsche der zahlreichen Gäste zu erfüllen.
»Im Kiosk war er auf jeden Fall nicht«, beantwortete sie Lennis Frage. »Zumindest habe ich ihn in dem Trubel nicht bemerkt.«
»Zu Hause haben wir ihn auch nicht gesehen«, sagte Janni.
»Du siehst doch sowieso nichts, weil du den ganzen Tag hinter dem Computer steckst.« Dési knuffte ihren Zwillingsbruder in die Seite.
Früher hatte so eine Bemerkung genügt, um den schönsten Streit zu entfachen. Doch die Zeiten hatten sich geändert, wie Fee insgeheim feststellte.
Jan schob seine schwarz umrandete Brille zurecht und lächelte sein Eiswürfellächeln. Ein untrügliches Zeichen für einen bevorstehenden Vortrag.
»Erstens habe ich nur einen halben Tag zur Verfügung, um mich mit den wirklich sinnvollen Dingen des Lebens zu beschäftigen.« Er warf das Haar auf die Seite. »Und zweitens ist das Haus kameraüberwacht. Ergo habe ich durchaus einen Überblick darüber, was sich bei uns abspielt.«
Die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm war beinahe mit Händen greifbar. Dann brach das Unwetter los.
»Bist du jetzt total übergeschnappt?«, fauchte Dési.
»Was soll das heißen? Kameras?« Daniel schnappte nach Luft. Sofort dachte er an die Überwachungssysteme in Kaufhäusern oder Tiefgaragen, wo Detektive vor Dutzenden von Bildschirmen saßen und jede Bewegung innerhalb des Gebäudes verfolgten.
Anneka hatte ähnliche Gedanken wie ihr Vater.
»Schon mal was von Privatsphäre gehört?«, ereiferte sie sich. Ihr Freund Sascha war am vergangenen Abend zu Besuch gewesen. Nicht auszudenken, wenn Janni sie beobachtet hatte … »Ich … ich … ich könnte dich anzeigen.«
Doch ihr Bruder winkte nur ab.
»So gut solltet ihr mich inzwischen kennen, um zu wissen, dass ich mich an Recht und Ordnung halte. Daher habe ich auf die Installation von Kameras im Haus verzichtet, da ich hierfür eine Einwilligung der Bewohner benötige. Die Anbringung einer Kamera im Eingangsbereich eines Hauses ist jedoch erlaubt und bedarf keiner besonderen Einwilligung der gefilmten Personen.«
Das Schnauben aus dem Bett erinnerte die Familie an den Grund ihres Besuchs. »Kamera hin oder her.« Lenni fuchtelte mit der Hand durch die Luft. »Ich weiß trotzdem nicht, wo Oskar steckt. Was soll ich denn jetzt machen?«
Diese Frage war schwer zu beantworten. Daniel und Fee sahen sich an. Die Gelegenheit war günstig, der ehemaligen Haushälterin ins Gewissen zu reden. So wehrlos wie jetzt war Lenni selten.
Fee legte die Hand auf ihren Arm.
»Im Augenblick bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten. Nicht nur Sie haben eine schwere Zeit hinter sich«, gab sie zu bedenken. »Auch Oskar hat ziemlich viele Federn gelassen. Die Arbeit im Kiosk, Ihre schlechte Laune. Und dann noch Ihre Schwärmerei für den Professor …«
»Meine Güte. Seit wann ist er denn so empfindlich …«
»Lenni«, mahnte Dr. Norden.
Sie kannte ihn lange genug, um diesen Tonfall einordnen zu können.
»Ist ja schon gut.« Beleidigt drehte sie den Kopf weg. »Ich hätte mir ja denken können, dass eine Krähe der anderen kein Auge aushackt.«
Daniels Mundwinkel zogen sich nach oben.
»Wenn Sie Oskar zurückgewinnen wollen, müssen Sie sich schon etwas Mühe geben. Und vor allen Dingen nicht mehr so viel herummeckern. Schließlich ist es keine Selbstverständlichkeit, in diesem Lebensabschnitt noch einmal einen Partner zu finden.«
»Schon gar nicht für eine Frau«, stimmte Janni seinem Vater zu. »Erwiesenermaßen haben Frauen es im Alter schwerer, einen neuen Partner zu finden«, erklärte er und erntete überraschte Blicke. Kein Thema, zu dem er nicht irgendwelche Weisheiten beisteuern konnte. Mit auf dem Rücken verschränkten Händen begann er, vor dem Bett auf und ab zu gehen. Lenni konnte ihn nicht sehen, hörte aber sehr wohl seine Schritte. »Das liegt zum einen an ihren hohen Ansprüchen. Ein weiterer Grund ist die unterschiedlich hohe Lebenserwartung. Heutzutage werden Frauen im Schnitt fünf Jahre älter als Männer. Das bedeutet, dass mit zunehmendem Alter die Auswahl für das weibliche Geschlecht kleiner wird. Oder um es mit Bildern aus dem Tierreich darzustellen: Immer mehr Weibchen kämpfen um immer weniger Männchen.« Er blieb vor dem Bett stehen und seufzte tief. Lenni reckte den Kopf in seine Richtung.
»Willst du damit sagen, dass Oskar an jeder Ecke eine Neue findet?«
»Wenn er will, dann lautet die Antwort eindeutig ja.«
Bis auf Janni hielt die ganze Familie Norden die Luft an. Niemand hätte es gewagt, Lenni die Wahrheit so unverblümt mitten ins Gesicht zu sagen. Doch das erwartete Donnerwetter blieb aus.
»Soll er sich doch eine andere suchen. Wird er schon sehen, was er davon hat«, murrte Lenni.
Sie hatte schon überzeugender geklungen.
*
Nach der Begegnung mit ihrem Chef fühlte sich Andrea Sander besser. Das Gesicht hinter einer riesigen Sonnenbrille verborgen, machte sie sich daran, die Unterlagen aufzuarbeiten, die in ihrer Abewesenheit liegen geblieben waren.
Obwohl eine Kollegin eingesprungen war, stapelten sich die Akten auf ihrem Schreibtisch. Sie erledigte die Korrespondenz, notierte Termine in ihren Kalender, erstellte eine Statistik, um die der Verwaltungsdirektor Dieter Fuchs gebeten hatte, und leitete alles für die geplante Fortbildung der Assistenzärzte ein.
Zwischendurch führte sie Telefonate mit einem Unternehmen für Medizintechnik. Derart gefangen in ihren Aufgaben, vergaß sie sogar ihr entstelltes Gesicht. Es fiel ihr erst wieder ein, als Clemens Kremling im Büro auftauchte. Wie jedes Mal, wenn sie dem neuen Leiter der Sozialstation begegnete, verwandelten sich ihre