Eigenheit. Zumal sich hinter der rauen Schale ein butterweiches Herz versteckte.
Doch die Zeiten hatten sich geändert. Oskars Seufzen war tief wie ein Bergwerk.
»Einsamkeit ist eine heimtückische Krankheit.«
Oskar Roeckl hatte die Frau neben sich völlig vergessen. Er zuckte zusammen und starrte sie an. Auch sie schien ihn gar nicht zu sehen. Saß nur da und blickte ins graublaue Wasser. Ein Tretboot schickte glucksende Wellen ans Ufer.
»Man sieht sie nicht. Es gibt keine Medikamente dagegen«, fuhr sie fort. »Und sie frisst uns innerlich auf.«
Oskar nickte langsam.
»Sie sprechen mir aus der Seele.«
Wie aus einem Traum erwacht, wandte die Frau den Kopf. So ein Gesicht machte Lenni immer, wenn sie Schmerzen hatte. Um ein Haar hätte Oskar sich nach ihrem Wohlergehen erkundigt. Doch sie kam ihm zuvor.
»Darf ich Sie auf eine Tasse Kaffee einladen?« Sie deutete hinüber zum Biergarten.
Oskars Augen folgte ihrem Fingerzeig.
»Ehrlich gesagt wäre mir ein Bier lieber. Wussten Sie, dass Bier vor Fettablagerungen im Herzen schützen kann? Damals, als ich noch als Unternehmer in der Modebranche gearbeitet habe …«
»Ach, Sie waren in der Modebranche tätig?«, unterbrach ihn die Fremde und hielt ihm die Hand hin. »Hannah Bloch, vielleicht haben Sie irgendwann von mir gehört.«
»Hannah Bloch, Hannah Bloch.« Oskar suchte in seinem Gedächtnis nach einer Spur. Eine vage Ahnung stieg in ihm auf. Wie ein lange vergessener Duft. Er spürte förmlich, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten. Schubladen öffneten und schlossen sich wieder. Bis die richtige an der Reihe war. »Natürlich, Hannah Bloch, die Chef-Designerin von Esmeralda. Der bedeutendsten Modemarke im Deutschland der 80er Jahre.«
Hannah scharrte mit den Füßen im Kies. Beim Anblick ihrer Schuhe musste Oskar lächeln. Sie trug die Sorte Schuhe, die Lenni stets als Hühneraugenfarm bezeichnet hatte. Zum Glück bemerkte Hannah Bloch sein Lachen nicht. Ihre Augen ruhten wieder auf dem Wasser.
»Dass Sie sich daran noch erinnern.«
Oskar räusperte sich und verbannte Lenni so gut es ging aus seinem Kopf.
»Esmeralda war eine unserer besten Marken. Die Kollektionen gingen damals weg wie warme Brötchen.«
Hannah zog eine Augenbraue hoch.
»Interessante Wortwahl.«
Schlagartig fühlte sich Oskar in seine Schulzeit versetzt.
»Tut mir leid. Ein besserer Vergleich ist mir auf die Schnelle nicht eingefallen.«
»Schon gut.« Hannah erhob sich und strich ihren Faltenrock glatt. »Was ist denn jetzt mit meinem Kaffee?«
»Natürlich. Wie unaufmerksam von mir.«
Oskar sprang auf und bot ihr den Arm. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie sich Richtung Seecafé aufmachten.
*
»Welcher Idiot hat sich ausgerechnet vor meinen Wagen gestellt? Ich habe Feierabend!« Volker Lammers’ Stimme hallte durch die Lobby der Behnisch-Klinik.
Patienten, Besucher und Kollegen drehten sich ebenso nach ihm um wie die Dame im Kostüm, die vor dem Tresen stand.
»Mea culpa!«, räumte sie ohne Umschweife ein, klemmte sich eine blonde Locke hinters Ohr und lächelte wie ein Engel. »Ich habe keinen anderen Platz gefunden.«
Auch wenn Fee Norden heftig widersprochen hätte: Volker Lammers war ein Mann. In dieser Eigenschaft war er alles andere als immun gegen die Reize einer schönen Frau.
»Oh là là!«, entfuhr es ihm. »Ein Schwan in einem Stall voller hässlicher Enten.« Er ignorierte den Blick, den ihm die Schwester hinter dem Tresen zuwarf. Seine Aufmerksamkeit gehörte Dr. Paulsen. »Wenn Sie mich rauslassen, überlasse ich Ihnen meinen Parkplatz. Vorausgesetzt, Sie sind morgen früh noch da, damit wir unser kleines Gespräch fortsetzen können.«
»Tut mir leid.« Mia Paulsens Lachen perlte durch die Halle, als sie den Mann bemerkte, der im flatternden Kittel auf sie zueilte. »So lange wird mein Gespräch mit Dr. Norden nicht dauern.«
Lammers ballte die Hände zu Fäusten. Norden! Norden! Immer wieder und überall diese Nordens! Am liebsten hätte Volker auf dem Boden ausgespuckt.
»Frau Dr. Paulsen, tut mir leid, dass Sie warten mussten.« Daniel begrüßte die Schönheitschirurgin. Er nickte Lammers zu, legte die Hand auf Mias Schulter und wollte sie zu einer ruhigen Sitzgruppe am Fenster führen. Doch Dr. Paulsen hatte noch eine Bitte.
»Mein Wagen hindert den Kollegen am Wegfahren.« Der Schlüssel klimperte in ihrer Hand.
Daniel überlegte nur kurz. Als er Annekas Freund Sascha durch die Lobby schlendern sah, winkte er ihn zu sich. Der lehnte die Bitte natürlich nicht ab. Schon gar nicht, als er den knallroten Schlüsselanhänger sah, auf dem sich ein goldenes Pferd aufbäumte.
»Mache ich doch gern.« Mit Siegerlächeln lief Sascha an Dr. Lammers vorbei.
Der folgte ihm zähneknirschend. Zu gern hätte er gewusst, was die blonde Schönheit vom Chef wollte. Aber erfuhr er nicht immer, was er erfahren wollte? Er schickte noch einen kurzen Blick zurück, sah den beiden zu, wie sie sich setzten, ehe auch er durch die Türen trat. Dr. Nordens Stimme wehte hinter ihm her.
»Vielen Dank, dass Sie meiner Bitte gleich gefolgt sind.«
Mia schlug die Beine übereinander. Der Rock ihres Kostüms rutschte über ihr Knie. Jeder Orthopäde hätte seine Freude an dem Anblick dieser wohlgeformten Kniescheibe gehabt, die von der Patellasehne an ihrem Platz gehalten wurde. Leider war keiner der Kollegen anwesend. Nur eine Schwester, die zwei Gläser Wasser auf den niedrigen Tisch zwischen ihnen stellte. Sie drehte sich um und wäre um ein Haar mit Sascha zusammengestoßen.
»Tolle Karre! Echt wahr.« Er gab Dr. Paulsen die Schlüssel zurück. Seine Wangen leuchteten mit seinen Augen um die Wette. »So eine kaufe ich mir, wenn ich genug Geld gespart habe.«
»Das wird ein paar Diskussionen mit Anneka geben.« Daniel zwinkerte ihm zu. »Wenn ich mich nicht irre, träumt sie von einem Campingbus.«
»Keine Sorge. Ich überzeuge Sie schon noch von den Vorzügen schnittiger Autos«, versprach Sascha, ehe er sich verabschiedete und an die Arbeit zurückkehrte.
Mia sah ihm lächelnd nach.
»Netter junger Mann. Kennen Sie sich privat?«
»Er ist der Freund meiner ältesten Tochter.«
»Sie haben Kinder?« Täuschte sich Daniel oder huschte ein Schatten über Mias hübsches Gesicht? »Noch dazu so große? Das hätte ich nie vermutet.«
»Anneka hat sogar noch zwei ältere Brüder. Und zwei jüngere Geschwister. Aber ich will Sie nicht mit Geschichten über meine Familie langweilen. Es geht um meine Assistentin Frau Sander.«
»Sie erwähnten es bereits am Telefon.« Mia beugte sich vor und nahm einen Schluck Wasser. Ihr Lippenstift hinterließ keine Spuren auf dem Glas. »Ich fühle mich nach wie vor für meine Patientin verantwortlich und möchte sie gern bei mir in der Klinik weiterbehandeln.«
»Schon möglich. Leider hat Frau Sander das Vertrauen in Sie und Ihre Fähigkeiten verloren.«
Das Glas klirrte leise, als Dr. Paulsen es auf den Tisch zurückstellte.
»Ich kann das nur zur Kenntnis nehmen.« Ihr Gesicht erinnerte Daniel an die Gipsmasken, die er früher einmal in der Jugendgruppe gebastelt hatte. Er dachte an die glitschigen Gipsverbände auf der Haut und das seltsame Gefühl, wenn sie nach und nach erstarrten. Später hatte er sie mit Farbe bemalt, mit künstlichem Haar beklebt und Mädchen erschreckt. So einen Unsinn hatte Mia Paulsen bestimmt nie angestellt. Sie wirkte wie ein Mensch, der als Kind schon erwachsen gewesen war. »Die ganze Angelegenheit ist mir