noch einmal um. »Wenn Sie wollen, dass ich Julius dauerhaft helfe … Sie wissen, wo Sie mich finden können.« Sie nickte Emil Steinhilber zu und verließ das Zimmer.
*
»Bereit für die nächste Behandlung?«, fragte Dr. Norden, der schwungvoll in sein Büro eingebogen war.
Andrea Sander zuckte zusammen. »Meine Güte, Sie dürfen eine alte Frau nicht so erschrecken.« Sie presste die Hände auf ihr Herz.
»Alte Frau?« Daniel sah sich um. »Wo?« Er drehte sich um die eigene Achse. »Ich kann keine sehen.«
»Sie Schmeichler.«
»Und Sie sind eine Tagträumerin.« Dr. Norden trat an den Schreibtisch und versuchte, den Ausdruck in Andreas Augen hinter den dunkel getönten Brillengläsern zu erkennen. Vergeblich. »Oder können Sie gar nicht anders als träumen, weil Sie nichts sehen?« Er machte die Probe auf’s Exempel und winkte sie mit sich in sein Büro.
Ohne Zögern stand Andrea Sander auf, griff nach einer Akte und folgte ihm. Daran konnte es also nicht liegen.
»Das hier hat Herr Kremling für Sie abgegeben«, sagte sie leise. So verhalten war sie doch sonst nicht.
»Kremling?« Daniel sah sie verwundert an. Nach einem Blick in die Unterlagen ging ihm ein Licht auf. »Ach, Sie meinen den neuen Leiter der Sozialstation.« Er sah kurz hoch, wieder hinunter und dann wieder zu Andrea. Nie zuvor war sie in seiner Gegenwart rot geworden. Doch jetzt leuchtete ihr Gesicht wie eine Mohnblume. Und das lag mit Sicherheit nicht an den Anti-Falten-Spritzen.
»Er … er meinte, Sie sollen ihn wegen der Reha für Gerda Kraft anrufen«, fuhr sie fort, ehe ihr Chef eine Frage stellen konnte. »Ein Plan liegt in den Unterlagen.«
»Das wird Lenni gar nicht gefallen, wenn sie jetzt auch noch von hier fort soll«, murmelte Daniel, während sich Andrea auf einen der Stühle setzte. Er legte die Akte weg, schlüpfte in ein Paar Handschuhe und griff nach einer Tube. »Bitte die Brille abnehmen … den Kopf ein wenig zurück … so ist es gut.« Vorsichtig betupfte er die entzündeten Hautpartien mit Salbe. »Sagen Sie, könnte es sein, dass es Ihnen dieser Herr Kremling angetan hat?«, erkundigte er sich beiläufig.
Im ersten Moment wollte Andrea leugnen. Im zweiten war ihr klar, dass sie ihrem Chef nichts vormachen konnte. Und wollte.
»Ich bitte Sie! Männer in meinem Alter interessieren sich doch nicht für alte Schrullen wie mich.« Andrea erschrak selbst über die Bitterkeit in ihrer Stimme. Genauso erschrocken war sie, als sie vom Fenster aus beobachtet hatte, wie Clemens von einer Frau abgeholt worden war.
Das junge Ding war auf ihn zugeflogen und hatte sich an ihm festgesaugt wie eine Stechmücke. Ekelhaft!
Als Daniel eine besonders empfindliche Stelle berührte, zerplatzte das Bild wie eine Seifenblase. Andrea zuckte zusammen.
»Tut mir leid.« Er trat einen Schritt zurück und begutachtete seine Arbeit. »Wenn ich geahnt hätte, dass Sie solche Probleme mit dem Alter haben, hätte ich Sie zu einem Psychologen geschickt. Sie können aufstehen.«
Doch Andrea rührte sich nicht vom Fleck.
»Man muss den Tatsachen ins Auge schauen. Ab einem gewissen Alter haben Frauen bei Männern nichts mehr zu melden.«
»Bitte kein Schubladendenken!«, verwahrte sich Dr. Norden gegen diese Behauptung. Ihm war jede Art von Verallgemeinerung zuwider.
Doch wenn er ehrlich zu sich selbst war, fand er sich durchaus selbst als Täter wieder. Ertappte sich bei durchschaubaren Verallgemeinerungen. Politiker logen, Unternehmer nützten aus, Vertreter täuschten, Banker betrogen, Musiker nahmen Drogen. Und Männer liebten nur junge Frauen. Dabei befanden sich genügend Politiker, Unternehmer, Vertreter, Banker, Musiker und Männer unter seinen Patienten, die das Gegenteil bewiesen. Selbst ein Mann, fühlte sich Daniel Norden genötigt, eine Lanze für sich und seine Geschlechtsgenossen zu brechen.
»Es gibt durchaus Männer, für die noch andere Qualitäten zählen als reine Äußerlichkeiten.«
»Das sagen Sie jetzt nur, um mich zu trösten.« Schließlich stand Andrea Sander nun doch auf und zog die dunkelblaue Bluse glatt. »Ein Auto kann man auch nicht beliebig oft reparieren. Irgendwann ist es nun einmal ein Haufen alter Schrott.«
Daniel lachte.
»Falls es Sie beruhigt: Mit einem Auto haben Sie so viel gemein wie ein Model mit einem Gartenzwerg.« Ein besserer Vergleich fiel ihm auf die Schnelle nicht ein.
Trotzdem wurden seine Bemühungen belohnt. Andrea Sander lachte, wenn auch verhalten, ehe sie ins Vorzimmer zurückkehrte. Doch die gute Laune war nicht von langer Dauer. Es war ihrem Chef zwar gelungen, sie zumindest halbwegs von ihren Qualitäten zu überzeugen. Die junge Frau, die Clemens Kremling so unverblümt auf den Mund geküsst hatte, konnte er allerdings nicht wegzaubern.
*
»Sie tanzen gern! Oh, das ist ja fabelhaft.« Hannah Bloch klatschte in die Hände. Der rosafarbene Lack ihrer Nägel glänzte im Licht der untergehenden Sonne. »Dann haben Sie sicherlich Lust, mich einmal in den Bayerischen Hof zu begleiten.«
Oskar verschluckte sich an seinem Bier. Er hustete, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen. Mit Mühe gelang es ihm, das Glas zurück auf den Tisch zu stellen. Bayerischer Hof! Auf so eine Idee wäre Lenni nie gekommen. Zwei, drei Mal war es ihm gelungen, sie zum Tanztee im Bürgerhaus zu überreden. Statt kostbarer Teppiche und edlem Parkett lag dort pflegeleichter Laminatboden. Deckenfluter statt Kronleuchtern, Plastikbezüge anstelle von Brokatstoffen. Auf den Tischen hatten Vasen mit Plastikblumen gestanden. Im Bayerischen Hof waren es mit Sicherheit silberne Leuchter. Und doch hatten sie ihren Spaß gehabt. Er mehr, Lenni weniger, was aber nicht am Ambiente lag, sondern vielmehr an ihrer Abneigung gegenüber Schlagern.
»Das ist doch was für alte Leute«, hatte sie in ihrer unvergleichlichen Art geschimpft.
»Was ist? Warum lachen Sie?«, fragte Hannah verschnupft und betastete das violett schimmernde Haar. »Stimmt was nicht mit meiner Frisur? Ist mein Make-up verwischt? Ein Fleck auf dem Kleid.« Mit spitzen Fingern suchte sie in ihrem Täschchen nach einem Spiegel.
»Nein, nein, alles in bester Ordnung«, versicherte Oskar schnell. »Sie sehen bezaubernd aus.«
Seine Versicherung beruhigte sie nicht. Erst, nachdem sie sich selbst davon überzeugt hatte, lehnte sie sich wieder zurück.
»Schön. Dann begleiten Sie mich also. Die nächste Veranstaltung ist kommenden Samstag.«
»Das ist ja schon übermorgen.« Oskar wurde es heiß und kalt. Es war lange her, dass er sich auf dem Parkett der Schönen und Reichen bewegt hatte. Wenn er ehrlich war, hatte es ihm auch nicht gefehlt. Ganz und gar nicht. Und das lag nicht nur daran, dass er keinen Smoking besaß. Doch wie nun den Kopf aus der Schlinge ziehen? »Wir kennen uns doch kaum.«
Hannahs Lachen klirrte wie ein Eiswürfel im Glas.
»Wissen Sie, ich vergleiche das Leben immer mit einem Urlaub. Am Anfang erkundet man die neue Umgebung. Man entdeckt unbekannte Gerüche, neue Landschaften, lernt aufregende Menschen kennen.« Sie ließ ihren Blick über den See schweifen. »Die Zeit scheint sich bis in die Unendlichkeit zu dehnen. Doch nach ein paar Tagen wird das Neue schon zur Gewohnheit. Man schaut nach dem Aufstehen immer auf die gleiche Palme vor demselben Horizont, sitzt mit denselben Leuten am Tisch. Sogar das Buffet wiederholt sich irgendwann.« Ihr Blick kehrte zurück. »Und plötzlich ist der Urlaub viel zu früh vorbei.« Mit spitzen Fingern griff sie nach der Tasse. Beim Nippen spreizte sie den kleinen Finger ab. Dabei ließ sie Oskar nicht aus den Augen. »In unserem Alter hat man keine Zeit mehr zu verschwenden. Ich will noch etwas erleben, bevor mein Urlaub vorbei ist. Sie etwa nicht?«
Oskar griff nach seiner Tasse, bemerkte, dass sie leer war, und stellte sie zurück auf den Tisch.
»Ja, ja, doch, schon«, antwortete er fahrig, als eine wohlbekannte Stimme an sein Ohr wehte.
»Passt es Ihnen hier?«
Oskar