beiseite und konzentrierte sich auf das Gespräch.
»Was ist denn überhaupt passiert?«
Mia seufzte.
»Ich kann mir das selbst nicht erklären. Kurz nach der Unterspritzung reagierte Frau Sanders Haut in einer Weise, wie ich sie nie zuvor beobachtet habe.«
»Eine allergische Reaktion?«
»Schwer vorstellbar. Das Mittel ist allgemein sehr gut verträglich. Aber ausschließen kann ich es natürlich nicht. Leider gab mir die Patientin nicht die Möglichkeit, weitere Untersuchungen durchzuführen. Frau Sander hat die Klinik Hals über Kopf verlassen. Und ich bin alles andere als zufrieden mit dem Ergebnis. Ich habe mehrfach versucht, mich mit ihr in Verbindung zu setzen. Leider ohne Erfolg. Umso dankbarer bin ich für Ihren Anruf, Herr Kollege.« Als Dr. Paulsen wieder nach ihrem Glas griff, streifte sie wie zufällig Daniels Hand.
Er gab vor, es nicht bemerkt zu haben.
»Gut, dass Andrea in dieser Klinik arbeitet. Sie können sich auf mich verlassen, dass ich ihr die beste Behandlung angedeihen lasse.«
Mia verzog den Mund.
»Im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen glaube ich Ihnen aufs Wort.«
Daniel hatte das Gefühl, als wollte sie auf den Grund seiner Seele blicken. Das gefiel ihm nicht.
»Vielen Dank für die Blumen.«
Mia spürte seinen Widerstand.
»Das sollte kein Kompliment sein, sondern entspricht nur der Wahrheit.« Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Glas in ihren Händen. Kohlensäurebläschen stiegen auf und zerplatzten an der Oberfläche. Sie zählte bis zehn. Daniel warf einen Blick auf die Uhr. Allmählich wurde es Zeit, in sein Büro zurückzukehren. Das Gespräch hatte nicht den erwünschten Erfolg gebracht. Schon wollte er sich verabschieden, als sie sagte: »Was halten Sie davon, wenn wir die Akte Sander gemeinsam durchgehen? Da wir beide vielbeschäftigte Menschen sind, würde ich ein Abendessen vorschlagen.«
Hatte sie seine Fluchtpläne durchschaut? Daniels Augen wurden schmal.
»Sie denken an ein Arbeitsessen?«
»Rein geschäftlich«, versicherte die Kollegin und schob ihm ein Kärtchen über den Tisch. »Sagen wir in zwei Stunden?« Daniel Norden griff nach der Karte des Restaurants. ›Seehaus‹ stand in geschwungenen Lettern über dem Foto. Mia erhob sich. »Bis später!« Sie hob die Hand zum Gruß und durchquerte die Lobby. Wie Schüsse aus einer Pistole hallten ihre Schritte von den Wänden wider. Daniel sah ihr kurz nach, als seine Kitteltasche vibrierte. Er zog das Mobiltelefon heraus.
»Feelein! Was kann ich für dich tun?« Ganz im Gegensatz zu Volker Lammers hatte er die Dr. Mia Paulsen sofort vergessen und verließ die Halle mit dem Telefon am Ohr.
Volker dagegen wartete in seinem silbergrauen Allerweltswagen am Straßenrand. Feierabend. Er hatte alle Zeit der Welt, um seine Umwelt zu beobachten.
*
Der Zustand ihrer ehemaligen Haushälterin bereitete Fee Norden Kopfzerbrechen. Die Erfahrung zeigte fast jeden Tag aufs Neue, dass Wunden bei gestressten Patienten oft deutlich schlechter heilten als bei entspannten. Das konnten selbst Wissenschaftler bestätigen, die herausgefunden hatten, dass Rötungen, Schwellungen und Schmerzen im Bereich einer Wunde bei fast der Hälfte aller unglücklichen Menschen vorkamen. Zudem gab es Hinweise, dass Menschen in einer Beziehung mit aggressivem Umgangston wesentlich später gesund wurden als Menschen in harmonischen Beziehungen.
»Und dass Lenni alles andere als harmoniebedürftig ist, ist ein offenes Geheimnis«, murmelte Felicitas vor sich hin. Inzwischen war sie vor Julius’ Krankenzimmer angekommen. Zeit, sich auf ihren Patienten zu konzentrieren.
Emil Steinhilber begrüßte sie wie einen alten Freund. Julius dagegen sah kaum hoch. Als wäre nichts geschehen, lag er im blau-weiß gestreiften Bett. Der Zugang an seiner linken Hand war mit einem Pflaster auf dem Handrücken festgeklebt. Ein durchsichtiger Schlauch führte hinauf zum Infusionsbeutel. Mit der rechten Hand tippte er unverdrossen auf seinem Handy herum.
»Ich hoffe, Sie haben gute Nachrichten für uns.« Emil Steinhilber sah seine ehemalige Studentin an.
Fee rang sich ein Lächeln ab.
»Der Eingriff verlief wie erwartet, der Bruch ist versorgt.«
»Hast du gehört?« Emil klopfte auf den meerblauen Gips seines Enkels. »Du kannst deinen Arm bald wieder bewegen.«
»Hoffentlich. Ich muss ja scootern.« Der Junge machte sich noch nicht einmal die Mühe, vom Bildschirm aufzusehen.
Fees Herz wurde schwer.
»Dass Julius die Finger nicht bewegen konnte, hat leider nichts mit dem Bruch zu tun.«
»Das verstehe ich jetzt nicht ganz.« Emil stemmte die Hände in die Hüften.
Er musterte sie von oben herab. »Sie sagten doch, die Operation sei gut verlaufen.«
»Das ist richtig. Leider hat die Befundung des MRTs ergeben, dass Jonas an einer vermutlich angeborenen Einengung eines Wirbelkanals leidet. Eine der Nervenwurzeln wird zusammengedrückt.« Obwohl sie die Diagnose kannte, nahm sie das Tablet und berührte mehrmals den Bildschirm. »Die Bewegungsprobleme der Hand rühren nicht von dem Bruch, sondern von diesem verengten Nervenwurzelkanal.«
»Moment mal.« Alle Freundlichkeit war aus Emil Steinhilbers Gesicht verschwunden. »Aber er hatte doch vorher keine Probleme. Nicht wahr, Julius?«
Julius’ Blick klebte an seinem Handy. Er nickte so mechanisch wie die kleinen Figuren, die über den Bildschirm hopsten.
»Ich gehe davon aus, dass er das taube Gefühl einfach ignoriert hat. Der Sturz hat die Problematik allerdings verschlimmert.«
»Und was kann man dagegen tun?« Emils Pupillen färbten die Iris schwarz.
Fee klickte sich durch die Bilder, ehe sie das Tablet ausschaltete und auf das Bett legte.
»Da leider keine Chance auf eine spontane Besserung besteht, müssen wir noch einmal operieren.«
»Am Rückenmark?« Emil schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen. Dieses Risiko ist viel zu hoch.«
Dieser Widerspruch wunderte Felicitas nicht. Schon im Vorfeld hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, wie sie an seiner Stelle reagiert hätte. Mit dieser Vorgeschichte. Nicht für viel Geld wollte sie mit ihrem ehemaligen Dozenten tauschen.
»Ich verstehe Ihre Sorge. Auf der anderen Seite können wir nicht zulassen, dass Julius’ Stenose schlimmer wird. Er ist noch so jung. Viel zu jung für eine dauerhafte Einschränkung.«
Emil Steinhilber fuhr sich über die Augen. Plötzlich wirkte er wie der alte Mann, der er tatsächlich war.
»Gibt es denn keine Alternativen?« Seine Stimme hatte ihre jugendliche Leichtigkeit verloren.
»Das Problem an der Sache ist, dass Wirbelsäulenstenosen normalerweise eine Alterserscheinung sind«, erklärte Felicitas. »Bei Senioren wird meist auf einen operativen Eingriff verzichtet. Die symptomatische Behandlung steht im Vordergrund. Dabei sind Schmerz- und Cortisonspritzen das Mittel der Wahl.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber in Julius’ Fall hat das wenig Sinn. Er leidet bereits unter motorischen Ausfällen. Und das in seinem Alter! Da haben Kinder doch wahrlich andere Probleme.« Unwillkürlich gaukelte ein Bild durch ihren Kopf. Sie sah sich selbst – ein kleines Mädchen, das weißblonde Haar zu Affenschaukeln geflochten –, wie sie wie ein Äffchen an den Beinen des Vaters hing und um ein Eis bettelte. Lebenswichtig war das damals gewesen. Sie seufzte. Manchmal wünschte sie sich die Probleme und Sorgen ihrer Kindheit zurück.
Emil hatte ihr Schweigen genutzt, um sich mit seinem Enkel zu unterhalten. Als er sich wieder aufrichtete, drückte er die Hände in den Rücken. Seine Miene war entschlossen.
»Wir versuchen es erst einmal mit den Spritzen.«
Felicitas Norden machte gar nicht