n>
Anthony Weston
Die Kunst des guten Arguments
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Ute Kruse-Ebeling
Reclam
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Anthony Weston: A Rulebook for Arguments. Fifth Edition
Indianapolis/Cambridge: Hackett Publishing Company, 2017
2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
© 2017 by Hackett Publishing Company, Inc.
German edition published by arrangement with the Literary Agency Eulama Lit. Ag.
Covergestaltung: zero-media.net
Coverabbildung: FinePic®
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2020
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961740-4
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011286-1
Einleitung
Wozu überhaupt argumentieren?
Viele Menschen sind der Meinung, dass Argumentieren nichts anderes ist, als seine Vorurteile in neuer Form darzulegen. Deshalb sind auch viele Menschen der Auffassung, dass Argumentationen im Rahmen von Debatten unerquicklich und sinnlos sind. Eine der Wörterbuch-Definitionen für »Debatte« lautet »Streitgespräch«. In diesem Sinne sagen wir manchmal, dass zwei Menschen »einen Streit haben«: also einen verbalen Schlagabtausch. Das passiert häufig genug. Aber das ist nicht das, was das Argumentieren und das Führen von Debatten wirklich ausmacht.
In diesem Buch bedeutet »Argumentieren«, verschiedene Gründe oder Belege anzuführen, um eine Schlussfolgerung zu untermauern. Ein Argument ist hier nicht einfach nur eine Behauptung bestimmter Ansichten, und eine Argumentation ist, im Rahmen einer Debatte, nicht einfach nur ein Streit. Argumente sind Versuche, bestimmte Ansichten mit Gründen zu stützen. Argumentieren in diesem Sinne ist nicht sinnlos, sondern vielmehr unbedingt notwendig.
Argumentieren ist erstens unbedingt notwendig, weil es eine Möglichkeit ist, herauszufinden, welche Ansichten besser sind als andere. Nicht alle Ansichten sind gleich. Einige Thesen können gut begründet werden. Andere haben einen deutlich schwächeren Rückhalt. Doch oft wissen wir nicht, welche fundiert sind und welche nicht. Wir müssen Argumente für unterschiedliche Thesen anführen und diese Argumente dann bewerten, um herauszufinden, wie stichhaltig sie wirklich sind.
Argumentieren ist hier ein Mittel der Überprüfung. Einige Philosoph*innen und Aktivist*innen argumentieren beispielsweise, dass die Massentierhaltung zur Fleischproduktion Tieren enormes Leid zufüge und daher ungerechtfertigt und unmoralisch sei. Haben sie Recht? Das können wir nicht unbedingt klären, indem wir unsere momentanen Meinungen heranziehen. Viele Fragen sind damit verbunden – wir müssen die Argumente genau prüfen. Haben wir beispielsweise moralische Verpflichtungen gegenüber anderen Spezies oder ist nur menschliches Leiden wirklich schlimm? Wie gut können Menschen ohne Fleisch leben? Einige Vegetarier*innen haben ein hohes Alter erreicht. Beweist das, dass vegetarische Ernährungsweisen gesünder sind? Oder spielt das keine Rolle, wenn man berücksichtigt, dass einige Nichtvegetarier*innen auch ein sehr hohes Alter erreicht haben? (Man könnte vielleicht einen gewissen Fortschritt erzielen, indem man fragt, ob Vegetarier*innen prozentual gesehen ein höheres Alter erreichen.) Oder werden vielleicht gesündere Menschen tendenziell eher Vegetarier*innen als umgekehrt? All diese Fragen müssen sorgfältig erwogen werden, und die Antworten stehen nicht schon im Vorhinein fest.
Argumentieren ist auch noch aus einem weiteren Grund unbedingt notwendig. Sind wir erst einmal zu einer wohlbegründeten These gelangt, verwenden wir Argumente, um sie zu erläutern und zu verteidigen. Eine gute Argumentation wiederholt nicht einfach nur Behauptungen. Vielmehr führt sie Gründe und Belege an, so dass andere Menschen sich selbst eine Meinung bilden können. Wenn Sie zum Beispiel zu der Überzeugung gelangen, dass wir in der Tat die Art, wie wir Tiere züchten und nutzen, verändern sollten, müssen Sie mit Argumenten erläutern, wie Sie zu dieser Auffassung gekommen sind. So überzeugen Sie andere: Indem Sie die Gründe und Belege anführen, die Sie überzeugt haben. Es ist nicht falsch, entschiedene Meinungen zu einem Thema zu haben. Falsch ist, wenn man nur sie und sonst nichts vorzuweisen hat.
Argumentieren wird Ihnen mit der Zeit Spaß machen …
Normalerweise lernen wir zu »argumentieren«, indem wir behaupten. Das heißt, wir neigen dazu, gleich unsere Urteile – unsere Wünsche oder Meinungen – vorzutragen, ohne sie näher zu begründen. Und manchmal funktioniert das, zumindest wenn wir noch sehr klein sind. Was könnte es Besseres geben?
Eine echte Argumentation braucht dagegen Zeit und Übung. Unsere Gründe ordnen, unsere Konklusionen, d. h. die Aussagen, die wir begründen wollen, ins richtige Verhältnis zu den tatsächlichen Belegen setzen, Einwände erwägen und alles Übrige – das sind Fähigkeiten, die erst erworben werden müssen. Dafür müssen wir etwas älter werden. Wir müssen unsere Wünsche und Meinungen für eine Weile beiseiteschieben und tatsächlich nachdenken.
Seminare können dabei hilfreich sein – oder auch nicht. In Kursen, in denen es um die Vermittlung immer umfangreicherer Sachverhalte oder Methoden geht, werden Studierende selten dazu ermutigt, die Art von Fragen zu stellen, die durch Argumente beantwortet werden. Sicher sieht unsere Verfassung das Electoral College [Wahlleutekollegium]1 vor – das ist eine Tatsache – aber ist es immer noch eine gute Idee? (War es eigentlich jemals eine gute Idee? Was waren überhaupt die Gründe dafür?) Selbstverständlich glauben viele Wissenschaftler*innen, dass es noch anderswo im Weltall Leben gibt, aber warum? Was ist der Grund dafür? Gründe lassen sich für unterschiedliche Antworten anführen. Idealerweise lernen Sie am Ende nicht nur einige dieser Gründe kennen, sondern erfahren auch, wie man sie abwägt – und selbst weitere ausfindig macht.
Dafür braucht es wiederum vor allem Zeit und Übung. Dieses Buch kann dabei helfen! Darüber hinaus zeigt sich, dass das Argumentieren üben durchaus seinen eigenen Reiz hat. Wir werden geistig flexibler, ergebnisoffener und wachsamer und lernen zu schätzen, welchen Unterschied unser eigenes kritisches Denken tatsächlich ausmachen kann. Vom täglichen Familienleben über Politik, Wissenschaft, Philosophie bis selbst hin zur Religion werden uns ständig Argumente geboten, die wir berücksichtigen sollen. Im Gegenzug können wir wiederum auch unsere eigenen Argumente anführen. Betrachten Sie Argumentieren als einen Weg, für sich selbst herauszufinden, wo Sie innerhalb dieser sich entfaltenden, fortgesetzten Dialoge stehen. Was könnte es Besseres geben als das?
Was Sie in diesem Buch erwartet
Dieses Buch beginnt mit der Erörterung ziemlich einfacher Argumente, um dann zu erweiterten Argumentationen und ihrer Verwendung in Essays, mündlichen Vorträgen und schließlich öffentlichen Debatten überzugehen.
In den Kapiteln I–VI geht es um den Aufbau und die Bewertung kurzer Argumente. Diese geben einfach ihre Gründe und Belege in wenigen Worten, für gewöhnlich in wenigen Sätzen oder einem Absatz, an. Wir beginnen aus mehreren Gründen mit kurzen Argumenten. Erstens sind sie häufig: Sogar so häufig, dass sie Teil jedes Alltagsgesprächs sind. Zweitens sind längere Argumentationen für gewöhnlich Ausarbeitungen kurzer Argumente oder einer Reihe miteinander verknüpfter kurzer Argumente. Wenn Sie zuerst lernen, kurze Argumente zu verfassen und zu beurteilen, können Sie Ihre Fähigkeiten als Nächstes auf längere Argumentationen in Essays oder Vorträgen ausweiten.
Ein dritter Grund, um mit kurzen Argumenten zu beginnen, ist der, dass sie die besten Beispiele für die gängigen Formen von Argumenten sowie für typische Argumentationsfehler liefern. In längeren