Honore de Balzac

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke


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Wenn man sich das er­klä­ren will, so braucht man nur an jene im­mer vor­kom­men­den und im­mer er­staun­li­chen Lieb­schaf­ten zwi­schen großen, schö­nen Frau­en und klei­nen Män­nern, zwi­schen klei­nen, häß­li­chen Wei­bern und schö­nen, jun­gen Män­nern zu den­ken. Alle Män­ner, die un­ter ir­gend­ei­nem kör­per­li­chen Ge­bre­chen lei­den, an Klump­fü­ßen, Hin­ken, an Buck­lig­keit, un­ge­wöhn­li­cher Häß­lich­keit, an ei­nem Brand­mal oder Mut­ter­mal im Ge­sicht, an Ro­gu­ins Übel oder an­dern der­ar­ti­gen Ab­nor­mi­tä­ten, an de­nen die Er­zeu­ger un­schul­dig sind, ha­ben nur die Wahl, zwei Wege ein­zu­schla­gen: sich ent­we­der ge­fürch­tet zu ma­chen oder eine ganz be­son­de­re Her­zens­gü­te zu be­wei­sen; sich in­ner­halb der üb­li­chen mitt­le­ren Gren­zen zu be­we­gen, wie es die meis­ten Män­ner zu tun pfle­gen, ist ih­nen nicht ge­stat­tet. Im ers­ten Fal­le ge­hört dazu Ta­lent, Ge­nie oder Kraft; ein Mann kann Schre­cken nur ein­flö­ßen durch die Macht des Bö­sen, Re­spekt nur durch Ge­nie, Furcht nur durch viel Geist. Im an­dern Fal­le be­wirkt er, daß man ihn liebt, er paßt sich der weib­li­chen Ty­ran­nei wun­der­bar an und ver­steht bes­ser zu lie­ben als die Leu­te von un­ta­de­li­ger Kör­per­be­schaf­fen­heit. Von tu­gend­haf­ten Leu­ten er­zo­gen, von den Ra­g­ons, Mus­ter­bil­dern der eh­ren­haf­tes­ten Bour­geoi­sie, und von sei­nem Oheim, dem Rich­ter Po­pi­not, war An­selm durch sein rei­nes Herz und sein re­li­gi­öses Emp­fin­den da­hin ge­führt wor­den, daß die Voll­kom­men­heit sei­nes Cha­rak­ters für sein leich­tes kör­per­li­ches Ge­bre­chen reich­lich ent­schä­dig­te. Er­freut über ein sol­ches Stre­ben hat­ten Kon­stan­ze und Cäsar Po­pi­not oft vor Cäsa­ri­ne ge­rühmt. So klein­lich sie sonst wa­ren, hat­ten die bei­den Ehe­leu­te doch eine edle See­le und Ver­ständ­nis für die Ge­füh­le des Her­zens. Die­ses Lob er­weck­te ein Echo bei ei­nem jun­gen Mäd­chen, das, bei al­ler Un­schuld, in Po­pi­nots Au­gen das glü­hen­de Emp­fin­den las, das im­mer schmei­chel­haft wirkt, wel­ches Al­ter, wel­che Stel­lung und wel­ches Äu­ße­re der Lie­ben­de auch ha­ben mag. Der klei­ne Po­pi­not muß­te viel mehr als ein schö­ner Mann Be­weg­grün­de ha­ben, eine Frau zu lie­ben. War die Frau schön, so wür­de er sie bis zu sei­nem letz­ten Le­bens­ta­ge an­be­ten, er wür­de sich auf­rei­ben, um sei­ne Frau glück­lich zu ma­chen, er wür­de sie Her­rin im Hau­se sein las­sen und sich ihr gern un­ter­ord­nen. So emp­fand Cäsa­ri­ne un­be­wußt, wenn auch viel­leicht nicht so deut­lich; wie im Flu­ge zog an ihr das Bild er­füll­ter Lie­be vor­über und der Ver­gleich muß­te ihr recht ge­ben: sie hat­te das Glück ih­rer Mut­ter vor Au­gen, sie wünsch­te sich kein an­de­res Le­ben, ihr In­stinkt ließ sie in An­selm einen zwei­ten, durch Er­zie­hung ver­voll­komm­ne­ten Cäsar se­hen, wie sie selbst voll­kom­me­ner durch ihre Bil­dung war. Sie er­träum­te sich Po­pi­not als Bür­ger­meis­ter ei­nes Be­zirks und ge­fiel sich dar­in, sich aus­zu­ma­len, wie sie, gleich ih­rer Mut­ter in Saint-Roch, ei­nes Ta­ges bei der Wohl­tä­tig­keits­or­ga­ni­sa­ti­on ih­res Kirch­spiels tä­tig sein wür­de. Sie be­merk­te schließ­lich gar nicht mehr, daß zwi­schen dem lin­ken und dem rech­ten Bei­ne Po­pi­nots ein Un­ter­schied be­stand, und sie wäre im­stan­de ge­we­sen, zu fra­gen: »Hinkt er denn?« Sie lieb­te sein kla­res Auge und lieb­te es, den Ein­druck wahr­zu­neh­men, den ihr Blick auf die­se Au­gen mach­te, die so­gleich in keu­schem Feu­er auf­leuch­te­ten, um dann me­lan­cho­lisch nie­der­ge­schla­gen zu wer­den. Ro­gu­ins ers­ter Schrei­ber, Alex­an­der Crot­tat, der jene früh­zei­ti­ge Er­fah­rung be­saß, die der stän­di­ge ge­schäft­li­che Ver­kehr ver­leiht, hat­te ein halb zy­ni­sches, halb gut­mü­ti­ges We­sen, das Cäsa­ri­ne wi­der­wär­tig war, die schon die Ge­mein­plät­ze sei­ner Un­ter­hal­tung nicht aus­ste­hen konn­te. Po­pi­nots Schweig­sam­keit ließ auf ein zar­tes Emp­fin­den schlie­ßen, sie lieb­te sein halb me­lan­cho­li­sches Lä­cheln, das ihm klei­ne Uner­heb­lich­kei­ten ab­nö­tig­ten; Tor­hei­ten, die ihn la­chen mach­ten, lös­ten das glei­che Ge­fühl bei ihr aus, und so lä­chel­ten sie und be­trüb­ten sich zu­sam­men. Die­ser Ein­druck, den er mach­te, hin­der­te An­selm aber nicht, sich in die Ar­beit zu stür­zen, und sein un­er­müd­li­cher Ei­fer ge­fiel Cäsa­ri­ne, denn sie fühl­te, daß, wenn auch die an­dern Kom­mis sag­ten: »Cäsa­ri­ne wird den ers­ten Schrei­ber des Herrn Ro­guin hei­ra­ten«, der arme, hin­ken­de, rot­haa­ri­ge An­selm doch nicht die Hoff­nung auf­gab, der­einst ihre Hand zu er­hal­ten. Solch eine star­ke Hoff­nung ist der Be­weis ei­ner star­ken Lie­be.

      »Wo geht er denn hin«, frag­te Cäsa­ri­ne ih­ren Va­ter und ver­such­te, un­be­fan­gen aus­zu­se­hen.

      »Er eta­bliert sich in der Rue des Cinq-Dia­mants! Und das, auf mein Wort, auf gut Glück!« sag­te Bi­rot­teau, des­sen Aus­druck we­der von sei­ner Frau, noch von sei­ner Toch­ter ver­stan­den wur­de.

      Wenn Bi­rot­teau auf ir­gend­ei­ne in­ne­re Schwie­rig­keit stieß, mach­te er es wie die In­sek­ten vor ei­nem Hin­der­nis, er wich nach links oder nach rechts aus; da­her wech­sel­te er den Ge­sprächs­ge­gen­stand und be­hielt sich vor, über Cäsa­ri­ne mit sei­ner Frau zu re­den.

      »Dei­ne Be­fürch­tun­gen und Ge­dan­ken über Ro­guin habe ich dei­nem On­kel er­zählt, er hat dar­über ge­lacht«, sag­te er zu Kon­stan­ze.

      »Du sollst doch nie­mals wei­ter sa­gen, was wir un­ter uns be­spre­chen«, rief Kon­stan­ze aus. »Der arme Ro­guin ist viel­leicht der eh­ren­haf­tes­te Mann der Welt, er ist achtund­fünf­zig Jah­re alt und denkt si­cher nicht mehr an …«

      Sie brach schnell ab, als sie be­merk­te, daß Cäsa­ri­ne auf­paß­te, und gab Cäsar einen Wink.

      »Dann habe ich also recht ge­tan, ab­zu­schlie­ßen«, sag­te Bi­rot­teau.

      »Du bist doch der Herr«, ant­wor­te­te sie.

      Cäsar nahm die Hän­de sei­ner Frau und küß­te sie auf die Stirn. Ihre Ant­wort war die, mit der sie im­mer ihr still­schwei­gen­des Ein­ver­ständ­nis zu den Pro­jek­ten ih­res Man­nes gab.

      »Vor­wärts,« rief der Par­füm­händ­ler, als er in den La­den her­un­ter­kam zu sei­nen Kom­mis, »um zehn Uhr wird der La­den ge­schlos­sen. Hand an­ge­legt, mei­ne Her­ren! Es han­delt sich dar­um, wäh­rend der Nacht sämt­li­che Mö­bel aus dem ers­ten Stock in den zwei­ten zu schaf­fen! Wir wer­den, wie man zu sa­gen pflegt, die klei­nen Töp­fe in die großen stel­len müs­sen, da­mit mein Archi­tekt mor­gen freie Hand hat.«

      »Ist Po­pi­not, ohne mich zu fra­gen, fort­ge­gan­gen?« sag­te Cäsar, als er ihn nicht sah. »Ach so, er schläft ja nicht mehr hier, ich hat­te es ver­ges­sen.« Er wird weg­ge­gan­gen sein, dach­te er, um die Aus­füh­run­gen Vau­quel­ins nie­der­zu­schrei­ben oder um den La­den zu mie­ten.

      »Wir ken­nen den Grund für die­sen Um­zug«, sag­te Cöles­tin, in­dem er im Na­men der bei­den an­dern Kom­mis und Ro­guets, die hin­ter ihm stan­den, das Wort er­griff. »Ist es uns ge­stat­tet, Sie zu ei­ner Aus­zeich­nung zu be­glück­wün­schen, die auf das gan­ze Ge­schäft zu­rück­fällt? … Po­pi­not hat uns er­zählt, daß Sie, Herr Bi­rot­teau …«

      »Ja, Kin­der, was wollt ihr, man hat mir den Or­den ver­lie­hen. Des­halb ha­ben wir, eben­so­sehr um die Be­frei­ung des Lan­des, als um mei­ne Er­nen­nung zum Rit­ter der Ehren­le­gi­on zu fei­ern, ei­ni­ge Freun­de ein­ge­la­den. Ich habe mich viel­leicht die­ser Aus­zeich­nung und al­ler­höchs­ten Gna­de