Artikel auch über Carl Dallago. Dieser begleitete die Prager auf einem Ausflug zum Toblinoschloss im Sarcatal und »tauchte« im Madonnina-Bad mit seinem »kraftvollen bronzebraunen Leib aus dem Wasser« auf, um den jungen Freunden Gesellschaft zu leisten.
Die Via Dallago zweigt von der Europastraße ab, die Via Montaigne in prominenter Nachbarschaft. Es ist hier wie so oft, wenn man die Hauptwege verlässt. Keine fünfzehn Minuten Fußweg vom überlaufenen Gardaseeufer entfernt, trifft man auf eine andere Welt. Vor einem Haus beweist ein kleiner Junge stolz seiner Großmutter, wie er schon ohne Stützräder Rad fahren kann. Ein sonnengebleichtes Ape-Dreirad kommt mir entgegen, hinten auf der Ladefläche Kisten und Schaufeln, vorne zusammengequetscht ein dickes Paar, das von der Feldarbeit heimkehrt.
Mit Tullio bin ich am Parkplatz neben der Durchzugsstraße verabredet. Ich solle dort auf ihn warten, erklärte er am Telefon, man benötige ein sehr kleines Auto, um zu seinem Haus fahren zu können. Tullio erscheint in einem betagten Fiat Panda. Als wir einen kopfsteingepflasterten Platz mit einem runden steinernen Brunnen in der Mitte passieren und in eine wirklich enge Gasse einbiegen, wird klar, dass mein Begleiter nicht übertrieben hat. Während wir an Häusern aus eckigen Natursteinen vorbeikommen und man über wappenverzierten Bogeneingängen einen Blick auf dunkle Holzbalkone erhascht, erklärt Tullio lachend, dass er auch ohne enge Gassen ein kleines Auto besitzen würde. Früher hätten die Dorfbewohner auf den Balkonen die geernteten Maiskolben getrocknet. »In meiner Kindheit aßen wir Polenta, Polenta, Polenta – gab es mal Fisch oder ein Huhn, stürzten wir uns alle darauf.« Vor einem schulterhohen Mäuerchen parkt Tullio seinen Wagen, die Tafel an der Mauer erklärt auf Italienisch, dass hier von 1912 bis 1922 »der Naturphilosoph und Poet Carl Dallago« gelebt habe. »Bei der Einweihung musste ich eine Rede vor fünfzig Leuten halten, alles Uni-Professoren, ich war schrecklich aufgeregt«, sagt Tullio. Das Haus steht in einem Garten, so wie es 1912 erbaut worden ist: ein zweigeschossiger, viereckiger Klotz, mittelgroß, der Eingang nach Südwesten zum See ausgerichtet, darüber drei Zimmer mit Seeblick, zwei Fenster, dazu eines mit Balkontür. Die Fenster »weisen ins Freie, auf Berge und See und nach dem endlosen Raum darüber. Und verbinden so mit dem Endlosen …«, beschreibt Dallago das neue Wohnambiente. Und fordert weiter, dass der Mensch selbst »wie ein Haus« werden solle, »dessen vergängliche Leiblichkeit sich Fenster ausbricht, die ins Unvergängliche weisen.«
Dallagos Wohnhaus in Nago
Eine einfache, auf das Praktische reduzierte Bauweise war Dallago wichtig. Inspiriert von Adolf Loos, war er der Ansicht, dass sich das Gebaute der Umgebung angleichen, der Landschaft unterordnen solle. Später im Alter zog er den Schluss, zwar in dem, was man Karriere nennt, »nichts erreicht« zu haben, es aber andererseits mit dem »ornamentlose(n) Mensch(en)« weiter als Loos gebracht zu haben. Vom Garten mit dem alten Steintrog aus Dallagos Zeiten geht der Blick zum See hinunter, auf dem weiße Segelboote tanzen, rechts auf einem kleinen Hügel holt sich die Natur allmählich die Überreste des von den Franzosen während der Napoleonischen Kriege gesprengten Castello Penede zurück. Tullio zeigt ein altes Foto, auf dem das Haus und der Garten zu sehen sind, dort pflanzte Dallago einen Tannenbaum, eine Zypresse und eine Schirmkiefer. Der Garten sollte die hiesige Vegetation symbolisieren, »in der sich der Norden und Süden begegnen«, vermutet mein Gastgeber. Für den Nietzsche-Schüler Dallago bedeutet der Süden eine Landschaft, »die Großartigkeit aufkommen« lässt und die schöpferischen Kräfte weckt. Von den Bäumen steht heute nur mehr die inzwischen haushohe Kiefer, in ihrem Schatten verbringt Tullio manchen Sommernachmittag. 1910 hatte Dallago in Innsbruck Ludwig von Ficker besucht – es kam zu Gegenbesuchen am Gardasee, man beschloss die Gründung einer neuen Zeitschrift: »Der Brenner«, deren Herausgeber Ludwig von Ficker war. Dallago wurde in den folgenden Jahren zu einem der wichtigsten Mitarbeiter.
Über Ficker lernte Dallago Georg Trakl kennen. Im April 1914 folgten Ficker und Trakl einer Einladung Dallagos und besuchten ihn in Nago. Man saß abends beim Wein zusammen, beriet sich, diskutierte. »Es ging um gegensätzliche Anschauungen über Religion, Trakl war Atheist, Dallago neigte einem mystischen Christentum zu«, sagt Tullio. Trakls Gedicht »Gesang einer gefangenen Amsel« ist eine Frucht dieser Tage in Nago. Für Tullio Rigotti besteht kein Zweifel: Im Gedicht sei von der hiesigen Landschaft die Rede, von einem Ölbaum und »grünem Gezweig«; die Freunde hätten nicht im Wirtshaus gehockt, »sondern hier, am Steintisch vor dem Hauseingang, mit Blick auf den Gardasee und die untergehende Sonne.« Leider gibt es den Tisch – zwei senkrechte Betonsockel, quer darübergelegt eine massive Steinplatte – nur mehr auf Fotos, er musste einem Wintergarten Platz machen.
Als der Krieg ausbrach und die Italiener im Mai 1915 auf die gegnerische Seite wechselten, wurde Dallago eingezogen und mit Botengängen und Materialtransporten in den umliegenden Bergen beauftragt. »Vor etlichen Jahren kam hier ein Mann vorbei – zuerst dachte ich, ein Tourist auf Wohnungssuche, doch dann stellte er sich als Freund Dallagos vor. Wir haben über den Krieg gesprochen und der Mann war überzeugt, dass Dallago als Pazifist nie einen Schuss abgegeben hat«, erzählt Tullio. Sein Vater, der ein paar Häuser entfernt aufwuchs, hätte Dallago noch gekannt. Im Dorf galt der Schriftsteller als gutmütiger Kauz. »Meinem Vater und auch den anderen Nachbarn kam es seltsam vor, dass er oft beim Guckfenster über der Haustür hinausspäte und sich dann plötzlich versteckte, als jemand näher ans Haus herankam.« Heute vermutet Tullio, dass Dallago aus Angst vor den Faschisten so gehandelt hatte: In den Zwanzigerjahren hatte er eine Reihe von Schriften, in denen er den Faschismus und den Duce scharf kritisierte, veröffentlicht. 1922 musste Dallago sein Haus in Nago wegen Schulden verkaufen. Aus Furcht vor einer Verhaftung durch das faschistische Regime emigrierte er 1926 nach Nordtirol, wo er auch gestorben ist.
Es ist spät geworden, als ich mich von Tullio verabschiede. Wir haben noch einen Espresso in seinem Wohnzimmer getrunken, wo er mir die Kopie eines Katasterauszuges vom 19. Juli 1912 gezeigt hat, in dem die Besitzrechte auf das Haus in Nago eingetragen sind: »Dallago Carlo und Dallago Francesca, Frau von Carlo« heißt es in elegant geschwungener Kurrentschrift. Dann fährt mich Tullio die inzwischen dunkle Gasse durch das Dorf zu meinem geparkten Wagen hinunter. Dabei kommen wir auch an einem niedrigen Häuschen vorbei, dem ehemaligen Bahnhof von Nago, wo heute eine einheimische Familie wohnt. Ob Dallago hier bei seinen häufigen Reisen ein- und ausgestiegen sei, frage ich Tullio. Doch mein Begleiter meint, das wäre eher unwahrscheinlich. »Dallago ging ja am liebsten zu Fuß – sogar bis Innsbruck.« Dabei hätten die Leute den Schriftsteller wegen seines unkonventionellen Auftretens manchmal für einen Herumstreuner gehalten. Es wird ihm recht gewesen sein, so konnte er in Ruhe seinen Gedanken nachhängen. Vom eitlen Schein der Welt hatte sich der Dichter und Naturapostel ja schon lange losgesagt.
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