Helmut Luther

Österreich liegt am Meer


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geb. Wopfner, Innsbruck.« Auch das Datum der Taufe ist festgehalten. Die Feier fand am 12. Jänner 1898 in der Kirche nebenan statt.

      Tafel am vermeintlichen Geburtshaus Kurt Schuschniggs in Riva

      Und dort gibt es eine weitere Überraschung. Nachdem wir das Gotteshaus durch den nördlichen Seiteneingang betreten haben, steuert Don Giovanni, sich kurz in Richtung Hauptaltar verneigend, zielstrebig auf die Chorempore zu, die wir über eine abgetretene Holzstiege erreichen. Oben zieht der Pfarrer eine Taschenlampe aus seiner Jacke hervor und tastet mit dem Lichtkegel im Halbdunkel die Orgelpfeifen ab, bis er rechts bei der kleinsten Pfeife fündig wird. Und dann kann auch ich lesen, was dort in die Plakette eingraviert wurde: »Dr. Corrado Schuschnigg« heißt es auf matt schimmerndem Kupfer, es ist der Name des Spenders der Orgelpfeife. Eingeweiht wurde das Instrument am 9. Juni 1940 mit einem feierlichen Konzert des Domorganisten von Trient, Don Attilio Bormioli. Ob Kurt Schuschnigg die Orgelpfeife persönlich überreichte, ob er sie schicken ließ oder bei einem lokalen Meister in Auftrag gab, ist nicht überliefert. Denkbar ist allerdings, dass er selbst noch einmal in die Geburtsstadt reiste. Und so stelle ich mir vor, wie der Bundeskanzler Mitte der 1930er-Jahre einige Tage Urlaub nahm, um sich in Riva am Gardasee von seiner schweren Amtsbürde zu erholen. Während er hier an die heiteren Kindheitstage zurückdachte, verfinsterte sich nördlich der Alpen der Himmel immer mehr, bis es zum »Anschluss« kam und schließlich der Krieg ausbrach. Aber das ist eine andere traurige Geschichte.

       Ein Landschaftsmensch

       NAGO

      Ist es Glück oder Pech, wenn einem bestimmt ist, die vorletzte Station zu bilden? Klar, dass in Nago niemand haltmacht, wenn am Dorfausgang nach langer Anreise zum ersten Mal der Gardasee ins Blickfeld kommt, zum Greifen nah, in seiner glitzernden Pracht. Das kleine Dorf bildet mit Torbole am Seeufer eine zusammengeschlossene Gemeinde. Reihen sich dort Sportanlagen, Hotels, Restaurants und Geschäfte für den Freizeitbedarf aneinander, so herrschen oben im Hügeldorf Nago Ruhe und Abgeschiedenheit, allerdings abgesehen von der Durchzugsstraße, wo sich hinter einem Kreisverkehr die Straßen gabeln: Links geht es hinunter zum See, rechts entlang der ehemaligen Bahntrasse nach Arco und weiter ins Sarcatal. An Wochenenden stauen sich hier schon frühmorgens die Urlauberautos, und wenn abends Tausende wieder zurück in die Städte strömen, bietet sich dasselbe Schauspiel. Gewiss konnte Carl Dallago die Auswüchse des Massentourismus nicht voraussehen, als er 1912 für sich und seine Familie hier in Nago ein Haus baute. Aber vielleicht ahnte er manches, als er ein Grundstück möglichst abseits am oberen Dorfrand wählte.

      Er nannte sich selbst einen Landschaftsmenschen. Er liebte die Natur, wanderte oft tagelang in den Bergen herum, auch seine Werke schrieb er nach Möglichkeit im Freien unter schattenspendenden Bäumen. Auf Fotos sieht Dallago wie ein Bauer aus, den man in einen Anzug gesteckt hat, mit gebräunter ledriger Haut, wie man sie nur unter der echten Sonne bekommt. Anarchist, Rebell, Naturapostel, Sonderling: So bezeichneten ihn Zeitgenossen. Dabei deutet, als Carl Dallago 1869 in Bozen in eine wohlhabende Kaufmannsfamilie hineingeboren wird, nichts darauf hin, dass er später einmal einen ganz anderen Weg einschlagen wird. Als Karl Anton Maria getauft – erst später unterzeichnete er als Carl –, war Carl Dallago der Stammhalter, drei Brüder verstarben früh, ein vierter wird den geistlichen Beruf wählen.

      Die Urgroßeltern Joseph Dal Lago und Christina Alneider kamen aus dem Grödental und siedelten sich als Geschäftsleute in Borgo an. Der dort geborene Großvater Johann Peter – der zur Schreibung Dallago überging – wanderte nach Bozen aus, wo er unter den Lauben ein Manufakturkurzwarengeschäft eröffnete. Über dem Geschäft »Johann Peter Dallago«, das der Vater Josef Maria vom Großvater übernehmen wird, spielen sich die ersten Lebensjahre des späteren Philosophen und Schriftstellers ab. Nach dem Besuch der Volksschule in Bozen absolvierte Carl Dallago zwei Jahre das Franziskanergymnasium, scheint aber mit »ungenügend« in Latein am Ende der zweiten Klasse kein Vorzeigeschüler gewesen zu sein. Nach dem Wechsel auf eine italienische Realschule in Rovereto sowie dem Besuch der Handelsakademie in Innsbruck, wo er eine kaufmännische Ausbildung erhielt, endete Dallagos Schulkarriere 1888.

      Die weitere Laufbahn schien vorgezeichnet: Er trat in das väterliche Geschäft ein, widmete sich sportlichen Vergnügungen wie dem Radrennsport und dem Skifahren und heiratete 1892 die Kaufmannstochter Adelheid Auckentaler. Im selben Jahr nach dem Tod des Vaters übernahm er das väterliche Geschäft. Das Ansehen der Familie Dallago in Bozen – schon damals wurden Geschäftsinhaber unter den Lauben halb spöttisch, halb bewundernd »Laubenkönige« genannt – lässt sich am Nachruf auf Carls Vater im »Tiroler Volksblatt« ermessen: Er beanspruchte eine ganze Seite, nie, heißt es dort, habe man seit den Begräbnissen von Erzherzog Rainer, Graf Sarnthein und Probst Thaler eine so große Menschenmenge gesehen. Im Jahresabstand kamen fünf Kinder zur Welt. Doch im Mai 1900 sollte Carl Dallago in zwei Bozner Zeitungen mit einer Annonce erklären, dass er das Geschäft einem Partner übergebe, der es unverändert weiterführen werde. Hinter der lakonischen Mitteilung verbirgt sich eine dramatische Lebenswende, der Bruch mit allem Bisherigen. Dallago verließ seine Frau und die Kinder und wählte die ungesicherte Existenz eines freien Schriftstellers. Eine neue Frau an seiner Seite, Franziska Moser, veröffentlichte Dallago seine ersten Werke, Gedichte und lyrische Dramen. Er nahm Kontakt auf mit Künstlerkreisen in München und Wien. Vorübergehend hatte Carl Dallago die ungarische Staatsbürgerschaft angenommen, ein Schachzug, um sich scheiden zu lassen, da es damals die Zivilehe nur in der ungarischen Reichshälfte gab. Er begann für Zeitschriften zu arbeiten und ließ sich 1904 nach längeren Aufenthalten dort endgültig mit der neuen Familie in Riva am Gardasee nieder, der Ehe sollten drei Kinder entspringen.

      Portraitfoto Carl Dallagos

      Mehrere Anrufe bei der Gemeindeverwaltung in Riva, um Dallagos ehemaligen Wohnsitz auszuforschen, bleiben erfolglos. Meine Bekannten vor Ort können mir in dieser Angelegenheit auch nicht weiterhelfen – und selbst sein Biograf Anton Unterkircher, der für die 2013 erschienene Biografie bisher unveröffentlichtes Quellenmaterial erforscht hat, hält sich bedeckt, was die Wohnorte der ersten Jahre betrifft. In dem über vierhundert Seiten umfassenden Werk ist das Geburtshaus in Bozen mit Laubengasse 42 angegeben. Bei der Anreise habe ich mich dort umgesehen und unter besagter Adresse nur ein Kleidergeschäft, keine Namenschilder, die auf darüberliegende Wohnungen schließen lassen, gefunden. Auch keine Tafel erinnert an den bedeutenden Sohn der Stadt. Vielleicht ist das die logische Folge, wenn man sich vorher türenschlagend verabschiedet hat. »Wie ich keine Freude mehr hatte am Geschäftemachen, und wie es mich immer hinauszog in die liebe lichte Welt. – Wie mich darob alle schalten: meine Untergebenen und die Standesgenossen. Wie man noch mehr erboste, als ich mich von allem losriss«, schreibt Dallago im Rückblick.

      Dafür werde ich in Nago fündig, was nicht zuletzt ein Verdienst Tullio Rigottis ist. Der pensionierte Mitarbeiter einer Elek-trogesellschaft hat sich dafür eingesetzt, dass eine Straße im Ort nach Carl Dallago benannt wurde. Und: Rigotti ist im ehemaligen Haus Dallagos in Nago aufgewachsen, wo er heute noch lebt, vor dem Eingang ließ Rigotti eine Erinnerungstafel an den prominenten ersten Bewohner anbringen.

      Bevor ich Tullio treffe, suche ich nach der Via Carl Dallago. An der Durchzugsstraße, wo ein Mexikanisches Restaurant mit einem Riesenkaktus Kunden anzulocken versucht, lotst mich das Navigationsgerät auf die Via Europa. Diese heutige Nebengasse bildet den alten Weg zum See hinunter. Hier sind alle vorbeigekommen: Montaigne, Goethe, das Heer der Bildungsreisenden, prominente und weniger prominente Maler und Schriftsteller. Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, dass Dallago, der notorische Fußgänger, vor hundert Jahren die damals noch staubige Straße entlang marschierte, mit aufgeknöpftem Hemd, das Jackett lässig über die Schulter geworfen, wie er auf Fotos zu sehen ist.

      In Riva lernte Dallago im September 1909 auch ein Prager Schriftstellertrio kennen, das mit der M. A. R. angereist war und in der günstigen Hotel-Pension-Riva gleich neben