zu locker sitzende Hose klemmt er mit einem Ellbogen an seinen schmalen Hüften fest, während er eine Tür zur Bibliothek öffnet. Mit mehreren durch eine Mitteltür verbundenen Sälen stellt diese einen Traum für jeden Bücherfreund dar. In den bis zur Decke reichenden Regalen stapeln sich kostbare ledergebundene Werke. Einige der Molls wären schwere Brocken im Habsburgerreich gewesen, »pezzi grossi, deshalb liegt hier viel Zeug herum«, sagt der Marchese und greift nach einer dicken Schwarte.
Es handelt sich um ein Exemplar des vielbändigen codex austriacus, der österreichischen Gesetzessammlung. In einem Schrank werden Sigismondo Molls Herbarien aufbewahrt – die einzelnen Bögen säuberlich mit schwarzer Tinte beschrieben, Zeugnis der botanischen Interessen des Barons. Moll habe sich die Samen für seinen Garten von weither schicken lassen, »aus Konstantinopel, Ägypten und Smyrna«, erklärt Tullo Guerrini. Versteckt hinter den obersten Büchern hängen einige Aquarellbilder: Werke Eduard Gurks, sagt der Marchese. »Zehn oder fünfzehn besitze ich noch.« Den Großteil seiner lange als verschollen geglaubten Sammlung – nach Medienberichten zweihundertzwanzig Blätter – verkaufte der Marchese vor einigen Jahren an das Land Südtirol. Der aus Wien stammende Biedermeiermaler Gurk begleitete Vertreter des Kaiserhauses wie Erzherzog Ferdinand und Erzherzog Johann auf ihren Reisen, welche ihn nach Prag, Bratislava, Budapest, Mailand und Venedig führten. Dabei verewigte Eduard Gurk in Lithografien, Kupferstichen und Temperabildern höfische Szenen, Landschaften, aber auch mit größter Detailfreude Momente des Alltagslebens der einfachen Bevölkerung. Auf seiner letzten Reise, die ihn 1841 nach Jerusalem führte, wo er im Alter von neununddreißig Jahren plötzlich verstarb, hielt Gurk sich als Gast im Palazzo Moll in Villa Lagarina auf. »Ich habe die Landschaft in alle Richtungen durchstreift und die Schönheit der Natur genossen«, schreibt er in einem Brief an die »Wiener Theaterzeitung« vom 17. November 1840. Als er von Mailand über Desenzano mit dem Boot nach Riva gelangt war, erwartete ihn dort eine von den Molls geschickte Kutsche. Ursprünglich wollte Gurk, wie er seinen Lesern in der »Theaterzeitung« schrieb, nur »acht oder neun Tage« in Villa Lagarina bleiben, um sich dann in Venedig einzuschiffen. Doch der Aufenthalt in der »mir freundlichen, unvergesslichen Villa« verlängerte sich dann auf sieben Wochen. Während der Überfahrt schrieb Gurk an Johann Karl von Moll, den er als »mein höchster Gönner« tituliert, er hoffe, auf der Rückreise erneut in Villa Lagarina haltmachen zu können. Es kam dann ganz anders: Plötzlich von Fieber erfasst, starb Eduard Gurk Ende März 1841 in Jerusalem, wo er auch begraben wurde.
Auf dem Schreibtisch in der Bibliothek hütet Marchese Guerrini heute ein Schwarzweißfoto von Leopoldo, dem letzten Moll. Der Arbeitsplatz sieht unberührt aus, der Marchese scheint sich lieber der Gartenarbeit zu widmen – solange die Kräfte reichen. Diese Beschäftigung hat schließlich Tradition im Palazzo Moll. Bevor ich mich vom heutigen Besitzer verabschiede, darf ich noch einen Rundgang durch den weitläufigen Park machen. Die Buchshecken sind akkurat geschnitten, in einem Teich schnattern Enten, die von Baron Sigismondo gepflanzten Bäume ragen inzwischen weit in den Himmel empor, sein Grab entdecke ich auch. Nur die große Orangerie steht heute leer – einst war sie der ganze Stolz des Freigeistes, der hier seine seltenen Pflanzenarten heranzog.
Ein Capostazione, der das große Los gezogen hat
MORI – ARCO – RIVA
Nein, Otto Karl Stöber würde es hier bestimmt nicht mehr gefallen. Wenige Meter entfernt auf der Autobahn donnern im Sekundentakt Lastwagen vorüber, ohne an der kleinen Eisenbahnstation zu halten, rollen auch die meisten Züge der Brennerlinie durch. Der Bahnhof von Mori ist heute ein trister Ort. Bis auf die zugige Durchgangshalle zwischen den Gleisen und der Straße sind sämtliche Räume des zweigeschossigen Gebäudes zugesperrt, nur im schlauchartigen »Wartesaal« ohne Schalterbeamte und jegliche Sitzgelegenheit brennt Licht.
Wie anders war hier alles am 28. Jänner 1891, als die Lokalbahn Mori-Arco-Riva, von den Einheimische heute noch liebevoll M. A. R. genannt, offiziell eröffnet wurde! Zwar hatte sich der unter Pseudonym schreibende Korrespondent »Benacus« im Lokalblatt »Il Raccoglitore« wenige Tage zuvor noch beschwert, dass die nur auf Deutsch verfasste Einladung eine »Beleidigung unserer Nationalliebe« sei, und hinzugefügt, es werde »viel Kraft erfordern, sich den Feierlichkeiten fernzuhalten«. Doch vom Eröffnungstag wusste das publizistische Hauptorgan der Region, die »Gazzetta di Trento«, Folgendes zu berichten: Um neun Uhr wurden die Geladenen am Bahnhof von Mori vom Ratspräsidenten Schwarz empfangen. »Das Gebäude war festlich geschmückt und im dort eingerichteten Restaurant wurde den Gästen eine erste Erfrischung gereicht … Um zehn Uhr setzte sich der ebenfalls festlich geschmückte Zug in Bewegung … im nahen Dorf Mori wurde er von den Klängen der Musikkapelle, den örtlichen Würdenträgern und der feiernden Einwohnermenge empfangen.«
Als Otto Karl Stöber seinen Dienst als Bahnhofsvorsteher an der Endstation Riva antrat, war er ein gemachter Kerl. Im damals österreichischen Teil Schlesiens in einfachsten Verhältnissen geboren, hatte der junge Mann nach Jahren des Militärdienstes im südtiroler Vintl einen Posten als kleiner Eisenbahner an der von der k. und k. priv. Südbahngesellschaft betriebenen Pustertalbahn ergattert. Die Bahn bedeutete damals Fortschritt. Indem die kaiserliche Regierung viele neue Zuglinien errichtete, rückten die entfernten Winkel des Riesenreichs näher an die Hauptstadt heran, so konnte den Fliehkräften entgegengewirkt werden. Die Eisenbahn brachte den Tourismus zum Blühen. Im Sommer 1887 hatte der deutsche Thronfolger Friedrich drei Wochen im nahe bei Vintl gelegenen Toblach Urlaub gemacht und die Gegend auf einen Schlag berühmt gemacht. »Ich vermisse die Spaziergänge und die reine Luft, die schönen Nadelwälder und die schöne Umgebung von Toblach …«, schrieb seine Gattin später aus Venedig. Entlang der Bahnlinie entstanden Grandhotels, bevölkert von Bankiers, Industriellen und Adeligen, den Stars jener Zeit. Im Dunstkreis dieses Milieus, so mag Stöber gedacht haben, könnten sich auch einem wie ihm Chancen auf Wohlstand und gesellschaftlichen Aufstieg bieten. Denn Otto Karl Stöber war zwar ein armer Schlucker, doch er hegte Ambitionen. Er war ein stattlicher, groß gewachsener Mann, den die schönen Künste anzogen. Während seine Kameraden ihren sauer verdienten Lohn beim Bier und Kartenspiel verprassten, malte Stöber. In seinen Mußestunden hatte er den Wartesaal von Vintl mit Fresken verziert. Diese Szenen ländlichen Lebens waren es, die im Jahr 1888 die Wende seines Lebens herbeiführten.
Eines Tages, es ist nicht überliefert, ob es Sommer oder Winter war, hält vor dem halb verwaisten Bahnhof ein Landauer. Der von zwei Pferden gezogenen Kutsche entschwebt ein blasses, brünettes Fräulein. Weltläufiges Auftreten sowie das bodenlange eng taillierte Kleid lassen eine Adelige vermuten, die hier auf einen Verwandten wartet, der mit dem Zug aus Wien eintreffen wird. Stöber, ihren fragenden Blick auf die Fresken bemerkend, spricht sie an – als Schöpfer der Bilder, wie er mit bescheidenem Stolz erwähnt, wäre er auf ihr Urteil gespannt. Es muss positiv ausgefallen sein. Denn als der Vater des hübschen Fräuleins aussteigt, Baron Melchior Josef von Lindegg, Herr zu Weissenberg, Marbach, Arndorf und Lizzana, war das Entscheidende bereits geschehen. Auf seine Güter in Lizzana bei Rovereto zurückgekehrt, fiel dem Baron zunächst nichts Merkwürdiges am Benehmen seiner Tochter auf. Doch selbst ein viel beschäftigtes Familienoberhaupt beginnt irgendwann Fragen zu stellen, wenn in seinem Haus getuschelt wird, die Mutter der Tochter vielsagende Blicke zuwirft und Letztere, bisher von ausgeglichener Wesensart, häufig zwischen Übermut und Niedergeschlagenheit schwankt. Früher hatte sich die sonst in großstädtischen Kreisen verkehrende Tochter Luigia auf dem Land stets gelangweilt und in ihren Kommentaren etwas hochmütig über die nicht in Konversation geübten einfachen Menschen geurteilt, nun entdeckte sie plötzlich die Freuden des Landlebens, gelegentlich entschlüpfte ihr auch die eine oder andere mitfühlende Bemerkung, die besagte, dass bestimmt auch Ungebildete aus den niederen Schichten, die weder Unterricht noch Privatlehrer gehabt hätten, Talent haben konnten und durch Fleiß und Rechtschaffenheit Anerkennung durch Höhergestellte verdienten.
Schloss von Erzherzog Albrecht in Arco
Um es kurz zu machen: Der Baron musste schließlich nachgeben. Er musste in die unstandesgemäße Verbindung seiner Tochter mit dem kleinen Eisenbahner einwilligen.