mag eine herablassende Haltung gegenüber den Einheimischen zum guten Ton gehört haben. Umgekehrt eiferten Anhänger des Irredentismus gegen »pangermanistische Tendenzen« seitens der österreichischen Verwaltung. In seiner Autobiografie »Ein Requiem in Rot-Weiß-Rot« schreibt Schuschnigg, »dass das alte Österreich trotz schwieriger Verhältnisse … auch nach 1866 … deutschen Wesens blieb. Nicht zuletzt die Armee und die zentrale Verwaltung, die deutsche Kommando- und Wiener Amtssprache trugen ihren wesentlichen Anteil daran.«
Einen Eindruck vom Riva jener Zeit vermitteln Fotos, die mein Gewährsmann Mauro Grazioli in einem seiner Bücher zur lokalen Geschichte veröffentlicht hat: Neben Pferden, Droschken, bäuerlich gekleideten Dienstboten und Herren mit Zylindern sowie Damen in Glockenröcken bevölkern Soldaten die Straßen und Plätze. Säbel und Uniformknöpfe blitzen in der Sonne, dazu Embleme, Wimpel, Rangabzeichen. Man mag sich die Sirenentöne eines auslaufenden Schiffes hinzudenken, untermalt vom Geschrei der Marktleute, von schnarrenden Offiziersstimmen und salutierenden Wachposten. Als die Lombardei und Venetien 1866 an Italien verloren gingen und damit auch das dort errichtete Festungsviereck, wurde von den Österreichern Riva als »südlichste Spitze Tirols« zur Festung ausgebaut. Die grasüberwachsenen Sperren, Bunker, Geschützstellungen, Laufgräben mit Schießscharten sowie Mannschaftsunterkünften rund um die Stadt sind noch bestens erhalten. Einige habe ich bei früheren Besuchen mit Taschenlampe und gutem Schuhwerk durchstreift, um mir ein Bild vom Soldatenalltag jener Zeit zu machen. Mauro Grazioli weiß von sechzigtausend Männern aus der Region, »Welschtirolern«, die im Weltkrieg auf österreichischer Seite kämpften – die meisten in Galizien, damit sie nicht auf die eigenen Landsleute schießen mussten. »Dabei kamen gut Zehntausend ums Leben, darunter einer meiner Großväter«, erzählt mein Begleiter, als er mich zu den Gebäudetrakten hinter der zum Museum umgebauten Festung führt, welche den Österreichern als Kaserne dienten. Nach 1918 hätte man die hiesigen Kriegsheimkehrer als »Verräter« verunglimpft. »Der Nationalismus hier ist immer noch stark ausgeprägt«, sagt Grazioli.
Kurt Schuschnigg, österreichischer Bundeskanzler bis zum »Anschluss« 1938
Aber zurück zu Kurt Schuschnigg. Die Spurensuche muss bei der Festung beginnen. Dort befanden sich die Diensträume seines Vaters Artur, der bei Kurts Geburt den Rang eines Leutnants innehatte. Heute stehen die nicht als Museum genutzten Gebäudeteile leer, andere dienen als Depots und zeitweilig als Ausstellungsräume. Hinweise auf die österreichische Militärverwaltung lassen sich keine entdecken. Als Offizier musste Artur Schuschnigg nicht bei den Mannschaften in der Kaserne wohnen, nach Dienstschluss ging er heim zur Familie. Die kurze Strecke über die Via Fabio Filzi (die damals natürlich nicht nach dem von den Österreichern als Deserteur hingerichteten Irredentisten aus Trient benannt war) dürfte er zu Fuß zurückgelegt haben. Vielleicht gab er unterwegs bei einem der Bauern, die unter den Arkadengängen ihre Früchte anboten, eine Bestellung auf, die dann ein barfüßiger Junge ins Haus lieferte: Trauben in einem geflochtenen Korb, süße Feigen oder Zitronen aus dem nahen Limone, die, je nach Qualität, als fini, sopraffini und scarto bis nach Wien und Budapest geliefert wurden. Oder vielleicht kehrte Artur Schuschnigg auch in einem Café hinter dem zinnengekrönten Stadttor San Michele ein, um sich jetzt »privat« und etwas lockerer mit Kameraden über die neuesten politischen Gerüchte auszutauschen – die täglich aus der Hauptstadt eintreffenden Zeitungen boten reichlich Stoff für Klatsch.
Die kleinen Läden und Werkstätten entlang der kopfsteingepflasterten Altstadtgassen sind inzwischen verschwunden. Heute reihen sich hier Büros und Modegeschäfte aneinander. Doch das eine oder andere Café gibt es immer noch. Es ist einer dieser windigen Tage, an denen nur Touristen an den Tischen im Freien sitzen. Im höhlenartigen Inneren eines Lokals mit Patina habe ich einen freien Tisch ergattert. Gegenüber am Tresen unterhält sich lautstark eine Männerrunde mit Weißweingläsern in der Hand. Weiter im Hintergrund, wo ein Fernseher flimmert, genießen zwei junge Frauen zum Kaffee »Sachertorte«. Ich bestelle mir ebenfalls ein Stück. Und auch wenn die süße Kalorienbombe nicht ganz an das Original vom Café Sacher im Herzen Wiens heranreichen mag, stimmt sie jedenfalls bestens ein auf meine folgende Begegnung.
Um fünfzehn Uhr bin ich mit Graziano Riccadonna verabredet, auf dessen Initiative wurde zu Schuschniggs hundertstem Geburtstag am Haus im Viale Lutti die Erinnerungstafel angebracht. Riccadonna, pensionierter Gymnasialprofessor für Philosophie, ist ein eher kleiner Mann mit grauem Kinnbart. Er wohnt in einem 1960er-Jahre-Kondominium zwei Straßen hinter dem Viale Lutti und führt mich gleich in sein Studierzimmer, das er bis zur Decke mit Büchern angefüllt hat. Auf dem Schreibtisch hat Riccadonna mehrere Zeitungsartikel ausgebreitet, die er zum Thema Schuschnigg in Riva am Gardasee verfasst hat, außerdem Fotos von Pressekonferenzen sowie einer Feier anlässlich der Enthüllung der Gedenktafel am mutmaßlichen Geburtshaus im Viale Lutti, zu welcher der damalige österreichische Generalkonsul in Triest, Arthur Schuschnigg, ein Nachfahre des Kanzlers, angereist war. Dann zeigt mir Riccadonna Kopien von Dokumenten, die belegen, dass Kurt Schuschnigg die ersten beiden Grundschulklassen in Riva besucht hat. Leider wurde das Schulgebäude abgerissen – die originalen Protokolle ruhen in den Gemeindearchiven, sagt Riccadonna. Stichhaltige Beweise, dass Kurt Schusschnigg in der Nummer 5 des Viale Lutti zur Welt kam, existierten allerdings nicht, gibt Riccadonna zu. Denkbar wäre nämlich zum einen, dass sich die Mutter zur Niederkunft ins Militärspital begab. Zum anderen bleiben uns, was die Wohnadresse betrifft, nur die Erinnerungen eines inzwischen verstorbenen Hausbewohners, der eine österreichische Offiziersfamilie im zweiten Stock gekannt haben will. »So erzählte er mir in einem Interview – wir nehmen an, dass es sich um die Schuschnigg-Familie handelt«, sagt Riccadonna.
Historische Ansicht von Riva
In seiner Autobiografie »Ein Requiem in Rot-Weiß-Rot« spricht der ehemalige Kanzler von einer »sonnig(en), friedlich(en), unbekümmert(en)« Kindheit in Riva. Die unbeschwerten Tage am Gardasee endeten allerdings früh. Wie in den anderen Garnisonsstädten gab es auch in Riva keine höheren Bildungseinrichtungen. Daher wurde Kurt zum Abschluss der Volksschule zuerst nach Wien Hütteldorf geschickt, bevor ihn sein Vater 1907 im privaten Elitegymnasium Stella Matutina der Jesuiten in Feldkirch anmeldete. Der Tagesablauf der Zöglinge dort war bis ins Detail festgelegt. Die Zeiten für Unterricht, Sport, privates Studium und das Gebet waren für alle verpflichtend, Privatsphäre oder Rückzugsräume waren nicht vorgesehen. Mit acht Wochenstunden Latein, später kam Griechisch hinzu, dominierte die klassische Bildung. Der fleißige und vife Schüler Schuschnigg gehörte bald zu den Jahrgangsbesten, eine besondere Begabung bescheinigten ihm die Lehrer im Musikalischen. Es folgten die Militär- und Kriegsjahre als Soldat in Istrien und anschließend bei den Isonzoschlachten, im Zuge derer Schuschnigg mehrere Tapferkeitsmedaillen erhielt. Nach Beendigung des Studiums folgten die Eröffnung einer Rechtsanwaltskanzlei in Innsbruck und der Beitritt zur Christlichsozialen Partei. Auf diesem Weg stieg Schuschnigg rasch zum hohen Politiker und schließlich zum Bundeskanzler auf. Nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager lebte Kurt Schuschnigg lange in den USA und kehrte erst 1968 in die Heimat zurück, wo er 1977, nach Jahren völliger Zurückgezogenheit, in Mutters in Tirol starb.
Ob Kurt Schuschnigg seine Geburtsstadt später noch einmal besucht hat, kann nicht zweifelsfrei in Erfahrung gebracht werden. Es gibt jedoch Indizien und dabei spielt Don Giovanni von der Pfarrkirche Santa Maria Assunta eine wichtige Rolle. Ein Anruf von Riccadonna genügt. Ja, er sei gerade im Pfarrhaus, sagt der Geistliche, der auswärtige Gast möge gleich zu ihm kommen. Pfarrhaus und Kirche befinden sich im ältesten Stadtteil Rivas, hinter dem Tor des Heiligen Michael. Don Giovanni ist ein sanft lächelnder Herr in den Siebzigern, den seine Beschäftigung mit den letzten Dingen nicht von der neugierigen Frage abhält, warum ich mich für ein bestimmtes Taufregister interessiere. Nachdem das geklärt ist, öffnet Don Giovanni den feuerfesten Stahlschrank in seinem Arbeitszimmer und benötigt nur einen Griff, um den dicken, mindestens einen halben Meter hohen Band in braunem Kalbsleder aus dem Regal zu wuchten, auf dessen Rücken »Documenti Battesimo« steht. Unter dem Datum 14. Dezember 1897 heißt es in gestochen scharfer Kurrentschrift: »Nacht’s halb vier: