Helmut Luther

Österreich liegt am Meer


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Kunstausstellungen statt. Erfreulicherweise gibt es in der Fußgängerzone viele Sitzbänke, wo man bequem das Treiben rundherum beobachten kann. Die Via Fratelli (Brüder) Strudel erinnert an die großen Künstlerbrüder, man fragt sich als Besucher allerdings, warum dafür ausgerechnet diese bescheidene Sackgasse ausgewählt worden ist, die wie ein überflüssiger Blinddarm von einer breiten Hauptstraße herabhängt. Auch das Caffè Bertolasi bietet der Fantasie wenig Möglichkeiten, sich das bunte Leben zu Zeiten der Strudel-Brüder vorzustellen, obwohl man hier einen wunderbar schaumigen Cappuccino trinken und von der Terrasse der flirtenden Dorfjugend zusehen kann. Wo heute das Caffè steht, soll sich einst das »Strudelhaus« befunden haben, heißt es auf einem Faltblatt, das mir die Dame im lokalen Tourismusbüro reichte, nachdem sie lange in einer Schublade herumgekramt hatte. Aber sicher ist auch das nicht. Es bleiben also nur die Werke, welche die drei Brüder oder zumindest ihre Verwandten der Nachwelt nicht nur in Vervò, sondern auch in Cles und anderen Orten des Nonstales hinterlassen haben. Aber vielleicht ist das für Künstler ohnehin die angemessenste Art der Erinnerung.

       Pezzi grossi – schwere Brocken

       VILLA LAGARINA – NOGAREDO

      Heute kennen nur mehr Eingeweihte die großen Namen, die mit Villa Lagarina und Nogaredo verbunden sind.

      Die allermeisten Urlauber rasen an diesen Orten vorbei und ahnen nicht, was sie sich entgehen lassen. Nach kurzer Fahrt über die Brennerautobahn biege ich bei Rovereto-Nord rechts ab nach Villa Lagarina. Das Viertausend-Einwohner-Dorf bildet ein altes Weinbauzentrum, in das sich freilich in den vergangenen Jahrzehnten neben der Bahntrasse und der Autobahn hässliche Gewerbe- und Industriehallen vorgefressen haben. Mein erstes Ziel hier ist die Pfarrkirche Santa Maria Assunta. Seit dem 15. Jahrhundert stellt das ursprünglich romanisch-gotische Gotteshaus den geistlichen Mittelpunkt der mächtigen Feudalherrschaft der Lodrons dar. Paris Lodron, Reichsfürst und Erzbischof von Salzburg, beauftragte Mitte des 17. Jahrhunderts den aus der Gegend von Como stammenden Architekten und Bildhauer Santino Solari, die alte Pfarrkirche im barocken Stil umzugestalten.

      Das schwere, nach Osten zur halbrunden Piazza ausgerichtete, hölzerne Portal von Santa Maria Assunta bleibt an diesem Vormittag verschlossen. Daher gehe ich rechts gegen den Uhrzeigersinn um das Gotteshaus herum und hoffe auf eine geöffnete Seitentür. Die Tür gibt es zwar, aber sie ist ebenfalls geschlossen. Noch gebe ich nicht auf, denn aus einem flachen Nebengebäude neuerer Bauart dringt Männergelächter. Den Stimmen nachgehend, treffe ich einige Herren, die vor dem Nebengebäude rauchend herumstehen und aus Plastikbechern dunklen Wein trinken. Hier sei der Altentreffpunkt, »und dass wir hierher gehören, sieht man doch, he, he!«, erklärt ein rundlicher Kerl mit Stoppelfrisur sowie nicht mehr ganz intakten Zahnreihen, indem er auch mir einen Becher reicht. »Salute!«, »Prost!«, fordert Paolo Zandonai mich zum Trinken auf und erzählt, dass schon Mozart den lokalen Rotwein Marzemino im Don Giovanni besungen habe. »Also sind wir hier berühmt!«

      Castel Noarna, Stammsitz der Lodrons

      Ich erfahre von Paolo Zandonai, dass der Komponist auf seinen insgesamt drei Italienreisen zwischen 1769 und 1773 stets im nahen Rovereto haltgemacht und dort am 26. Dezember 1769 sein erstes Konzert auf italienischem Boden gegeben habe. Darauf sind meine Trinkgenossen in Villa Lagarina mächtig stolz. Völlig zu Recht, wie eine ausführlichere Beschäftigung mit der lokalen Geschichte ergeben wird. Doch dazu später. Paolo arbeitete früher als Metallschlosser, jetzt hat er viel Zeit und vor allem die Nummer von Don Massimo in seinem Handy gespeichert. »Der Pfarrer wohnt nicht mehr hier, er ist für die halbe Talschaft zuständig«, sagt Paolo, bevor auch schon Don Massimo am Apparat ist. »Kein Problem«, heißt es anschließend, wir könnten den Schlüssel bei einer Nachbarin abholen, Paolo werde mich begleiten.

      Ein Glücksfall, denn es stellt sich heraus, dass Paolo Zandonai über persönliche Verbindungen zu den heutigen Nachfahren des Salzburger Erzbischofs Lodron verfügt. Seine Mutter Mariota sei von der Grafenfamilie als Waisenkind aufgenommen worden, erzählt der Mittsechziger, während wir zum Haus der Nachbarin spazieren. Mariota war 1919 sechs Jahre alt, als ihre Mutter an der Spanischen Grippe starb. Contessa Giuseppina gehörte demselben Jahrgang an wie sie, die beiden waren Vertraute von Kindesbeinen an. »Meine Mutter verbrachte ihr ganzes weiteres Leben – sie wurde fünfundneunzig Jahre alt – im Palazzo der Grafenfamilie, wo sie auch gestorben ist«, sagt Paolo. In früheren Jahren, erfahre ich weiter, sei Paolos Mutter als »bambinaia« für die Beaufsichtigung der Grafenkinder verantwortlich gewesen und später, als es offiziell längst keine »dienstbaren Geister« mehr gab, führte Mariota als letzte Getreue für Gräfin Giuseppina den Haushalt. Sie habe den Stammbaum der Lodrons auswendig gekannt und erinnerte die Kindheitsgefährtin, falls diese mal den Geburtstag eines Enkelkindes vergaß, an ihre Großmutterpflichten. »Wenn dann die Contessa seufzte: ›Mariota, du bist unser wandelndes Familienarchiv!‹, strahlte Mama, das war der Lohn ihrer Treue«, sagt Paolo Zandonai. Um zu erahnen, wie gut Mariotas Gedächtnis in besagter Angelegenheit funktionierte, muss man einen Blick auf den weitverzweigten Stammbaum der Lodrons werfen, wie er etwa in einem langen Wikipedia-Eintrag abgebildet ist, mit den verschiedenen Linien des auf das 11. Jahrhundert zurückreichenden Grafengeschlechtes samt älteren und jüngeren Primo- sowie Sekundogeniturlinien. Nur mit Ausdauer gewinnt man einen groben Überblick.

      Als Paolo das Kirchenportal aufgedrückt hat, blendet der überirdische Glanz der Fresken, Altäre, Heiligenstatuen, Stuckornamente, Marmorböden und Pilaster meine Augen – Santa Maria Assunta gilt als herausragendes Beispiel barocker Architektur in der Region. Vor allem die dem Heiligen Rupert geweihte Seitenkapelle ist mit dem Namen des Salzburger Fürstbischofs Paris Lodron verbunden – und mit dessen Baumeister Santino Solari. Dreiunddreißigjährig, am 13. November 1619, wird Lodron zum Erzbischof von Salzburg ernannt, nach dem Tod seines Vorgängers, dessen Berater er war. Es ist eine äußerst schwierige Zeit für die katholische Kirche. Im Jahr zuvor war der Dreißigjährige Krieg ausgebrochen, ein furchtbarer Religionskonflikt und ein Ringen um die Vormachtstellung in Europa sowie im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. An seinem Ende waren ganze Landstriche entvölkert. »Nicht nur das Erzbistum, sondern ganz Deutschland ist jetzt in höchster Gefahr … Ich bin gezwungen, bis auf einige wenige notwendige Minister den ganzen Hof zu entlassen, um die Ausgaben zu reduzieren«, schreibt der frischgebackene Kirchenfürst in einem Brief an seinen Vater Nikolaus.

      Portraits aus jener Zeit zeigen einen gedrungenen Mann mit strengen Gesichtszügen, hoher Stirn, Kinn- und Schnurrbart. Bekleidet ist der Kirchenfürst mit einem scharlachroten Schulterumhang (der Mozetta), am Ringfinger der rechten Hand steckt der Bischofsring, vor dem Herzen trägt Paris Lodron das Brustkreuz, ein weiteres Zeichen seiner Amtswürde. Auf keinem Portrait fehlt auch das Wappentier der Grafenfamilie: ein aufgerichteter Löwe mit Brezelschweif.

      Geboren wurde Paris Lodron auf dem Stammschloss Castel Novo, von den Einheimischen Castel Noarna genannt, es thront auf einer Hügelkuppe oberhalb von Villa Lagarina. Nach dem Theologiestudium in Trient, Bologna und Ingolstadt zum Priester geweiht, kommt Lodron nach Salzburg, wo er 1606 Domherr wird. Den Weg ebnete ihm sein Onkel Graf Antonio, Domherr zu Salzburg und Passau, der dem Neffen 1612 auch die Pfarrei in Villa Lagarina überließ. Zwar besuchte Paris Lodron seinen Heimatort nur noch selten, aber er blieb ihm zeitlebens verbunden, indem er sich etwa für die Landbevölkerung einsetzte. Zur Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse eröffnete Lodron eine Schule im Ort und ließ am Salzburger Marianokolleg für junge Männer aus Villa Lagarina drei fixe Studienplätze reservieren. Um die lokale Wirtschaft anzukurbeln, gründete der Fürstbischof ein Leihhaus in Villa Lagarina mit neuen Kreditmöglichkeiten. Durch eine kluge Politik gelang es ihm, während der Dreißigjährige Krieg Europa verwüstete, Salzburg aus allen Händeln herauszuhalten und der Stadt in Zusammenarbeit mit seinem Baumeister Solari ihr norditalienisches frühbarockes Aussehen zu verleihen. An vielen Gemäuern Salzburgs prangt heute noch der Brezellöwe, etwa an den Festungsanlagen im venezianischen Stil oder an der 1622 gegründeten Universität, die heute seinen Namen trägt. Und natürlich im Dom, der von Solari nach dem verheerenden Brand von 1598 neu erbaut wurde. In dessen Krypta