Hunde aus. Auf den gekräuselten Wellen jagen Surfer im Zickzackkurs hin und her, das Aufschlagen ihrer Bretter ist bis ans Ufer zu hören – da hier am Nordrand des Gardasees praktisch immer der Wind weht, bildet Riva eine Hochburg der Segler und Surfer. Die sportlichen Gäste interessieren sich kaum für die Geschichte des ehemaligen Kurortes, daher bleibt auch das gelbgetünchte einstige Sanatorium unbeachtet, das sich wie ein verwunschenes Schloss inmitten eines weiten Parks erhebt. Üppiges Grün umwuchert die Freitreppe unter einem zum See ausgerichteten Balkon. Wo einst gebauschte Röcke über den Marmorboden streiften und Herren mit Einstecktuch den Damen Komplimente machten, hört man heute die Vögel zwitschern. Außer den Stadtgärtnern, die das Grün zurückstutzen, kommt hier selten jemand vorbei. Vom faschistischen Italien in eine Ferienkolonie für Kriegswaisen umgewandelt, wartet das Gebäude seit Jahren auf eine neue Verwendung. Unterdessen verblasst langsam die auf Italienisch verfasste Inschrift »Waisenkolonie« über der Freitreppe.
Im Ersten Weltkrieg hatten italienische Geschütze Teile von Rivas Altstadt zerstört. In den 1920er- und 1930er-Jahren wurden in die Bombenlücken neoklassizistische Bauten gestellt: »Den neuen faschistischen Machthabern ging es darum, die ›Italianità‹ der Region zu beweisen«, erklärt mein Begleiter Grazioli. Mit einem Sportstadion, einem Tennis- und Segelclub sowie zahlreichen Häusern im Zentrum schufen Mussolinis Architekten ein neues modernes Riva. Ein Juwel direkt am Seeufer ist die von Giancarlo Maroni entworfene Badeanstalt Spiaggia degli Olivi: Ein eleganter zweigeschossiger Bau mit zwei schlanken Ecktürmen, die einen Kreis einfassen. Im Erdgeschoss rundet sich eine geschlossene Fensterfront, im Obergeschoss wird die Fläche von einem Gebälk über luftigen Säulen begrenzt. Ins Wasser vorgeschoben, ragt ein Zehnmeterturm wie ein Ausrufezeichen empor. Zum See hin präsentiert die Badeanstalt ihre Prachtseite. Wie ein weißer Dampfer scheint sich die Spiaggia degli Olivi vor dem Hintergrund ineinander verschachtelter Altstadtdächer auf große Fahrt zu begeben. Mauro Grazioli erinnert sich an abendliche Feste im mondänen Seebad: »Als wir jung waren, trafen sich hier berühmte Gäste, Kellner wieselten herum, Damen im Abendkleid und Herren im Zweireiher tranken im Obergeschoss einen Aperitif, im Untergeschoss wurde zu Klaviermusik getanzt.« Für ihn und seine Freunde sei die Spiaggia degli Olivi ein Sehnsuchtsort gewesen. »Durch die Fenster im Untergeschoss warfen wir scheue Blicke hinein. Das Bad, zu dem wir ohne Geld keinen Zutritt hatten, verkörperte für uns die große Welt.« An seinem heutigen Zustand ärgern Grazioli Verschandelungen wie ein grüner Kunstrasen oder eine mit Bambusmatten kaschierte Wand, die den Lautsprecherlärm dämpfen soll. »Eine Schweinerei«, findet er und macht mit dem Handy ein Foto. »Vielleicht schreibe ich im Lokalblatt einen bösen Kommentar.«
Gleich hinter dem Strandbad erhebt sich die Stadtfestung. Eine Zeitlang diente sie den Bischöfen von Trient als Residenz, unter den Österreichern befanden sich hier der Sitz der Militärverwaltung sowie das Hauptquartier der k. und k. Kriegsmarine am Gardasee. Heute ist in der ehemaligen Festung das Stadtmuseum untergebracht. Es beherbergt eine archäologische Sammlung und Werke regionaler Künstler, Teil des Museumkomplexes ist auch die Galeria Civica mit einer Dauerausstellung zu Leben und Werk des aus der Nachbarstadt Arco stammenden Malers Giovanni Segantini. Doch wir lassen diese Sammlungen alle links liegen, um ins oberste Stockwerk hinaufzusteigen, dort sind die Gegenstände meines Interesses ausgestellt: Ein schwarzer Zweispitz mit goldenem Emblem, ein silbrig-goldener Präsentiersäbel sowie ein ovales Ölgemälde in dunklem Holzrahmen, das einen großgewachsenen Mann in Uniform mit gezwirbeltem Schnurbart zeigt, an seiner Brust prangt ein Orden. Die Linke des Uniformierten umfasst locker den Säbelschaft, die Rechte einen schwarzen Hut. Eine Bildunterschrift erklärt auf Deutsch und Italienisch, dass es sich um ein Portrait Otto Karl Stöbers handelt.
Seine märchenhafte Verbindung mit der Baronin sollte übrigens kein gutes Ende finden: Am 25. November 1896 kam bei der Geburt ein Töchterchen ums Leben, zwei Tage später war auch die Mutter tot. Mutter und Tochter wurden im Familiengrab der Lindegg in Rovereto begraben, während der Witwer eine neue Stelle im Nordosten des Riesenreichs antrat, um über den Schicksalsschlag hinwegzukommen. Aus den Quellen ist leider nichts über den Friedhof in Rovereto zu erfahren. Telefonanrufe in dortigen Pfarreien bleiben erfolglos. Und da auch mein lokaler Gewährsmann das Familiengrab der Lindegg in Rovereto nicht kennt, bleiben die Objekte im Museum die einzigen Erinnerungsstücke an den Eisenbahner, der es dank glücklicher Verbindung aus kleinen Verhältnissen zum ersten Stationsvorstand der »k. und k. Privatbahn Mori-Arco-Riva« gebracht hat.
Wiege eines Bundeskanzlers
RIVA
Die Nachbarschaft hat etwas Symbolträchtiges: Auf einer weiten, von Zypressen begrenzten Grünfläche, einen Steinwurf vom Viale Lutti entfernt, steht ein Denkmal mit den Namen junger Männer, die an dieser Stelle im Kampf »gegen den Nazifaschismus gefallen sind.« Und vor der Eingangstür des Hauses Nummer 5 hängt eine Tafel, die erklärt, dass hier »il cancelliere austriaco Corrado Schuschnigg« zur Welt gekommen ist. Corrado ist der ins Italienische übersetzte Name von Kurt und erinnert an den von 1934–38 diktatorisch regierenden österreichischen Bundeskanzler Kurt Schuschnigg. Die einen sehen im Nachfolger von Engelbert Dollfuß den »austrofaschistischen« Totengräber der Ersten Republik, für die anderen ist Schuschnigg ein Märtyrer, der seine patriotische Gesinnung mit der Haft im Konzentrationslager bezahlt hat.
Die Nummer 5 des Viale Lutti ist ein schmuckloser, zweigeschossiger Kasten, landeinwärts wenige Gehminuten von Rivas Altstadtkern entfernt. Der kaisergelbe Anstrich könnte eine Auffrischung vertragen. Im schmalen Gartenstreifen verströmen ein Orangen- sowie ein Mimosenbaum südliches Flair. Da die Inschrift an der Gedenktafel nicht mehr leicht zu entziffern ist, und auch, weil ich ein Foto machen möchte, klingle ich an den Namensschildern neben dem Gartentor. Niemand reagiert. Ich schätze kurz das Risiko ab: Wenn ich auf das Betonmäuerchen klettere, könnte ich die Gartenumzäunung mit einem sportlichen Schritt überwinden. Der Fotoapparat um den Hals dürfte auch misstrauische Nachbarn beruhigen. So geschieht es. Eine halbe Minute später bin ich wieder diesseits des Zaunes, den Beweis, dass hier Kurt Schuschnigg am 14. Dezember 1897 das Licht der Welt erblickte, von meiner Kamera gespeichert. Aber wie kam der spätere Kanzler hierher? Beziehungsweise: Wie hat es seine Eltern in die Stadt am Gardasee verschlagen? Und was erinnert hier heute noch an ihn?
Wie bei zahlreichen anderen Persönlichkeiten seiner Zeit verweist Kurt Schuschniggs Herkunft auf das bunte Völkergemisch des Habsburgerreichs. Vier der fünfzehn Kanzler der Ersten Republik (wobei Johann Schober zweimal Kanzler war, 1921-1922 und 1929-1930) wurden nicht im heutigen Österreich geboren. Kurt Schuschniggs Mutter Anna Wopfner stammt aus Innsbruck, seine musischen und rhetorischen Talente dürften ein mütterliches Erbteil sein. Väterlicherseits kann der Stammbaum bis ins 18. Jahrhundert zurückgeführt werden, als die Familie unter dem damals noch slawischen Namen »Susnik« im slowenischen Oberkrain lebte. Mit dem Umzug des Urgroßvaters Urban nach Klagenfurt wird der Schritt zur Germanisierung gemacht, und als dessen Sohn Alois sich in Tirol niederlässt, beginnt auch die militärische Tradition, welche noch die Erziehung und das Weltbild seines Enkels Kurt prägen wird. Alois nahm als Freiwilliger sechzehnjährig an den Kämpfen des Feldmarschalls Radetzky in Oberitalien teil. Für seine Verdienste in den Schlachten von Mortara und Novara sowie bei der Rückeroberung Venedigs wurde er zum Unterleutnant befördert und ins Gendarmeriekorps aufgenommen. Beim Dritten Unabhängigkeitskrieg 1866 focht Alois Schuschnigg erneut in Oberitalien und kletterte weiter auf der Karriereleiter der k. und k. Armee empor. Anlässlich des Thronjubiläums von Kaiser Franz Joseph 1898 wurde Schuschnigg, mittlerweile Oberst und Befehlshaber des Tiroler Landesgendarmeriekommandos, mit vielen anderen verdienten Offizieren in den Adelsstand erhoben und durfte sich künftig »Edler von« nennen.
Dem Beispiel des Vaters folgend, dessen Wahlspruch »Tapferkeit und Demut« lautete, wählte auch Artur Schuschnigg die militärische Laufbahn und wurde nach dem Besuch der Militärakademie in Wiener Neustadt und einem Intermezzo bei den Tiroler Kaiserjägern in Innsbruck 1894 in Riva del Garda stationiert. 1896 heiratete Artur in Innsbruck Anna Wopfner, im Jahr darauf kam bereits Sohn Kurt auf die Welt. Über die genaueren Lebensumstände der jungen Familie in Riva ist nichts bekannt. Kurt Schuschniggs britischer Biograf R. K. Sheridon hebt hervor, dass die an den Randgebieten der Monarchie stationierten österreichischen Offiziere durch ihre