Vorwort
Reisen ist eigentlich eine Frage der Geografie. Reisen kann man nach New York, Paris, Rom, Mistelbach oder Honolulu. Aber in die Vergangenheit?
Man kann. Ich reise seit gut drei Jahrzehnten dorthin. Und das mit ungebrochener Reiselust.
Denn nichts erscheint mir spannender als Ereignissen auf die Spur zu kommen, die sich vor fünfzig, siebzig, hundert und mehr Jahren zutrugen und deren Hintergründe immer noch Rätsel aufgeben. Das können historisch bedeutsame Geschehnisse sein oder auch kleinere menschliche Begebenheiten, die ein wenig Licht auf vergangene Zeiten werfen. Wie war das, als ein Spielzeughändler aus Amsterdam den österreichischen Kaiser Franz Joseph zu erpressen versuchte? – ja, ein solch wahnwitziges Unterfangen hat es tatsächlich gegeben. Wie konnte es geschehen, dass der Spion Alfred Redl durch seinen Verrat die k. u. k. Monarchie an den Rand des Abgrunds drängte? Wer waren die Patienten, die sich auf Freuds Couch legten?
Meine Reisen in die Vergangenheit begeisterten mich vor allem dann, wenn sich aus ihnen neue Schlüsse ziehen ließen. Ich nahm daher Einblick in den Polizeiakt, der den Versuch, den Kaiser zu erpressen, dokumentiert. Und ich durchforstete in- und ausländische Archive, um herauszufinden, was Oberst Redl wirklich verraten hat. Und ich machte mich auch auf den Weg, die Krankengeschichten der Freud-Patienten zu studieren.
Archive und Polizeiakte neigen dazu, verstaubt zu sein. Deshalb suche ich, wann immer ich in die Vergangenheit reise, die Begegnung mit Zeitzeugen. »Hör mir auf mit Zeitzeugen«, pflegt mein Freund Marcel Prawy zu sagen, »es ist schrecklich, ein Zeitzeuge zu sein! Zuerst wird man geboren, dann ist man klein, dann wächst man heran, dann ist man erwachsen, dann ist man ein alter Kracher und dann kommt das Letzte und Ärgste, was einem passieren kann: man ist Zeitzeuge.«
Und doch kenne ich (und kennt wohl auch er) keinen besseren Weg, Geschichte lebendig und authentisch zu vermitteln, als durch das Gespräch mit jenen Menschen, die damals dabei waren. Wer sonst als die in Wien lebende Schwester hätte mir erklären können, wie es dazu kam, dass im Jahre 1900 eine bis heute überaus populäre Automobilmarke nach einem Mädchen, das Mercedes Jellinek hieß, benannt wurde? Wer sonst als dessen Tochter hätte mir die Irrwege des weltberühmten Hellsehers Hanussen aufzeigen können? Und wer sonst hätte mir den Menschen hinter der Ikone Sigmund Freud näher bringen können als sein letzter lebender Schüler, den ich 1989 in den USA traf?
Meine Reisen in die Vergangenheit führten mich auch in die Welt des Theaters und des Films, ins Reich der Liebe, der Medizin und der Musik. Bei Beethoven Station machend, erfuhr ich, auf welch abenteuerliche Weise es zwei Wiener Ärzten gelungen war, eineinhalb Jahrhunderte nach dem Tod des Musikgenies den Grund seiner Taubheit herauszufinden. Ein andermal traf ich einen Musikforscher, der verloren geglaubte Kompositionen von Johannes Brahms entdeckte, die dessen Haushälterin aus dem Papierkorb gefischt und damit für alle Zeiten gerettet hatte. Und der Komponist Norbert Schultze erzählte mir, welch weltpolitischer Tragödie es bedurfte, um sein Lied Wie einst, Lili Marleen zu einem der meistgesungenen Schlager des 20. Jahrhunderts zu machen.
Meine Reisen in die Vergangenheit führten mich auch in ganz andere Zeiten und Regionen. Hat Nostradamus vor fünfhundert Jahren wirklich Einsteins Relativitätstheorie, das Attentat auf John F. Kennedy und die Landung auf dem Mond vorhergesagt, wie dies von seinen Jüngern behauptet wird? Welche Folgen hatte es, wenn man von Maria Theresias Keuschheitskommission beim außerehelichen Tête-à-Tête erwischt wurde? Und wer, bitte sehr, war der echte Hauptmann von Köpenick?
Ich erzähle in diesem Buch nicht nur diese und etliche andere Geschichten, sondern möchte meinen Lesern auch Einblick geben, auf welche Weise meine Reisen in die Vergangenheit zustande kamen. Wie ich etwa Ernest Hemingways Doppelleben auf die Spur kam, der in jungen Jahren im Vorarlberger Montafon Urlaub machte – und zwar pikanterweise gleichzeitig mit Gattin und Geliebter. Oder wie es mir gelang, den Raub der Gebeine Mary Vetseras aus ihrem Grab aufzuklären. Und wie die damals noch lebende Kaiserin Zita reagierte, als ich über die Hintergründe einer zwischen Kaiser Franz Joseph und der Schauspielerin Katharina Schratt geschlossenen Geheimehe schrieb.
In meinem Bestreben, Geschichte – dort, wo es möglich und angebracht ist – auch ein wenig von ihrer heiteren Seite zu betrachten, schließe ich dieses Buch mit dem Kapitel Meine Reisen zu den Enkeln der Tante Jolesch. Und dies hat eine Vorgeschichte: Das Buch, das ich vor diesem schrieb, trägt den Titel Die Enkel der Tante Jolesch und war als Fortsetzung der Schilderungen gedacht, die der unvergessene Friedrich Torberg jenen Typen und Originalen gewidmet hatte, die ihm in den Jahren 1918 bis ’38 (um die Zeit ganz grob zu umreißen) begegnet waren. In meinem im Herbst 2001 erschienenen Buch von den Enkeln der Tante Jolesch hielt ich Aussprüche und Anekdoten jener beiden Generationen fest, die der Torbergschen Original-Tante Jolesch folgten. Da finden sich Geschichten berühmter Menschen wie Billy Wilder und Marlene Dietrich, Karl Farkas und Helmut Qualtinger, Leopold Figl und Bruno Kreisky, aber auch vieler unbekannter Käuze.
Als das Buch von den Enkeln der Tante Jolesch fertig war, erging es mir ähnlich, wie es einst Torberg ergangen. Mir selbst fielen weitere Geschichten ein, andere wurden mir von Freunden und Bekannten hinterbracht oder aus dem erfreulich großen Leserkreis herangetragen. Jemand riet mir sogar, ich möge noch ein Buch zum Thema, diesmal mit dem Titel Die Urenkel der Tante Jolesch, schreiben, doch das wäre wohl zu viel gewesen. Ein Fortsetzungskapitel in diesem Buch schien mir der richtigere Weg.
Wenn Sie mich auf den nun folgenden dreihundert Seiten begleiten, wünsche ich Ihnen eine ebenso spannungs- und unterhaltungsreiche Zeit, wie ich selbst sie auf meinen Reisen in die Vergangenheit erleben durfte.
GEORG MARKUS
Wien, im Juli 2002
»WIE EINST, LILI MARLEEN«
Ein Jahrhundert-Schlager entsteht
Mein auf Mallorca lebender Freund Ferry Hirschmann rief mich eines Tages aus Salzburg an, wo er gerade Urlaub machte. Als wir einen Termin zum Abendessen in Hallein vereinbarten, fügte er noch an: »Du wirst meinen Nachbarn aus Mallorca kennen lernen, der ist auch da.«
»Deinen Nachbarn aus Mallorca?«, fragte ich ein wenig überrascht.
»Ja, er heißt Norbert Schultze und ist der Komponist von Lili Marleen.«
Von da an ging mir die Melodie nicht mehr aus dem Kopf. Lili Marleen, das ist eines der meistgespielten Lieder aller Zeiten. Ein Lied, das wie kein anderes die Sehnsucht von Millionen jungen Männern ausdrückte, die Tag für Tag an der Front ihr Leben aufs Spiel setzten. Es war die Sehnsucht dieser in den Krieg getriebenen Soldaten, endlich wieder zu Hause, endlich wieder bei ihrem Mädchen sein zu können.
Ich hatte es nicht zu bereuen, Herrn Schultze getroffen zu haben. Erzählte er mir doch, während des gemeinsamen Abendessens in Hallein, die unglaubliche Geschichte seines weltberühmten Liedes. Und welcher weltpolitischen Tragödie es bedurfte, um es so erfolgreich werden zu lassen.
»Die paar Noten hatte ich in wenigen Minuten niedergeschrieben, das ganze Lied war in einer Viertelstunde fertig«, schilderte er die Entstehung des Schlagers. Gerade neunzig Jahre alt und von erstaunlicher Frische, legte der Komponist gleich los: »Den Text zu Lili Marleen gab es schon seit 1915. Ein junger Schriftsteller namens Hans Leip hatte damals unter dem Titel Kleine Hafenorgel mehrere Gedichte geschrieben, von denen eines Lili Marleen hieß. Das lag dann mehr als zwanzig Jahre lang herum, ohne dass sich ein Mensch darum gekümmert hätte.«
Zufällig fielen dem aus Braunschweig stammenden Norbert Schultze 1938 in einer kleinen Bar in Berlin-Charlottenburg die Zeilen in die Hände:
Vor der Kaserne, vor dem großen Tor,
Stand eine Laterne, und steht sie noch davor,
So wolln wir uns da wiedersehn,
Vor der Laterne wolln wir stehn
Wie einst, Lili Marleen